Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
zurücklassen musste, an die Säcke voll Mehl und Zucker, an die Eier, die Fässer mit Heringen und die vielen Äpfel, könnte sie weinen. Hier sind die Leute unverschämt, dabei bekommt man nicht einmal mehr das, was einem laut Karte zusteht. Wenn sie beim Anreihen keinen Erfolg hat, sammelt sie jetzt manchmal sogar ein paar Blätter Kohl, faulige Erdäpfel oder was sonst noch bei den Gemüsehändlern in den Schnee fällt, vom Boden auf und steckt es in ihre Tasche.
Das ist doch noch gut.
Was den Leuten einfällt.
Im Wegschmeißen sind sie groß, diese Gojim.
9
E nde Januar wird ihre Freundin plötzlich schwer krank. Sie liegt mit vierzig Grad Fieber im Bett und spricht von einer Grube, die mit Menschenfleisch gefüllt ist, und von einem Kind, das am Rand steht und das Fleisch aufessen will. Der Verlobte der Freundin weiß nicht, was er tun soll, gemeinsam schleppen sie die Kranke die Treppen hinunter und bringen sie mit einem Taxi zu den Baracken, die das Allgemeine Krankenhaus schon im letzten Jahr für die Epidemiekranken im Innenhof aufgestellt hat. Am nächsten Tag dürfen sie die Freundin nicht sehen, am dritten Tag auch nicht, außerdem habe eine Lungenentzündung die Krankheit verschlimmert, am vierten erfahren sie, es stehe sehr schlecht um die Freundin, und am fünften teilt der Arzt ihnen mit, dass diese nun schließlich an der Spanischen Grippe verstorben sei, schon am Morgen, um 3 Uhr und 20 Minuten.
Wo kommt sie jetzt hin?, fragt der Verlobte.
Nachts gegen elf holt sie der Siebzig-Einunddreißig.
Wer?, fragt der Verlobte.
Sie waren wohl lange im Krieg, dass Sie das nicht wissen.
Ja, sagt der Verlobte.
Erklären Sie’s ihm, sagt der Arzt zu ihr und geht.
Wir warten hier, sagt sie zu dem Verlobten.
Der Verlobte sagt: Worauf?
Auf den Siebzig-Einunddreißig.
Dann stehen sie bis in die Nacht hinein angelehnt an die Wand des Krankenhausbaus, über ihren Köpfen zwei unendliche Reihen von Fenstern, aber niemand blickt aus diesen Fenstern auf sie herunter, weil alle hinter den Fenstern schlafen oder krank auf den Tod sind, keiner von denen kann aufstehen und hinaussehen, tote Fenster in zwei sich verjüngenden Reihen, undurchschaut und verschlossen. Die Bogenlampen beleuchten die Straße nur bis abends um zehn, danach ist es vollkommen dunkel. Manchmal hockt sich auch einer von ihnen hin oder geht ein paar Schritte. Der Verlobte raucht, so lange, bis seine Manteltaschen leer sind. Als es zu schneien beginnt, stellen sie sich unter das Tor, das vor vier Tagen ein Eingang war, und nun bald ein Ausgang sein wird. Heilung und Trost den Kranken , steht darüber auf einer Tafel. Kurz vor Mitternacht kommt dann wirklich der Straßenbahnwagen Numero 7031 mit den zwölf quer angeordneten Fächern für Tote, eine Sonderanfertigung des vergangenen Jahres, als die Pferdefuhrwerke mit dem städtischen Sterben nicht mehr Schritt halten konnten. Es ist ein stilles Einladen mehrerer Särge, in einem davon liegt still die gemeinsame Freundin, auf dem Trittbrett des Wagens steht niemand, um frische Luft zu schöpfen, und die Stirnwand ist dort, wo für Lebende Türen wären, von der Neuen Wiener Tramwaygesellschaft vernagelt. Die beiden Trauernden bleiben auf der Alserstraße zurück, der Abschied von der Freundin ist ein stilles, elektrisch betriebenes Wegfahren des Wagens Numero 7031, über dem Fahrer, der für die beiden Hinterbliebenen keinen Blick hat, weil er den Starthebel bedient und auf die Weichen achtet, steht auf einer beleuchteten Tafel das Ziel: Tor IV , Zentralfriedhof Wien.
10
D ie Erschütterungen waren gleichartig, ohne Geräusch; sie bestanden in einem langsamen Schaukeln, dessen Richtung nach bewegten Bildern als Nord-Süd angegeben wird. An der Zimmerdecke sollen einzelne kleine Sprünge entstanden sein. Unter dem Fortschreiten des Lebens hat sich, was ihm an seiner Frau anfangs als kindlicher Eigensinn gefiel, inzwischen verfestigt und ist etwas anderes geworden. Die Verwandlung hat sich allmählich vollzogen, aber von wann an das, was er inzwischen vielleicht als Härte bezeichnen würde, überwog, könnte er jetzt, im Nachhinein, nicht mehr sagen.
Am Anfang ihrer Ehe hatte sie sich manchmal gewünscht, dass er seine Mittagspause verlängerte, damit sie nach dem Essen noch einen Spaziergang machen könnten, pfeif doch einfach auf dein Büro, hatte sie gesagt und gepfiffen, oder dass er, wenn sie den »Faust« mit verteilten Rollen lasen, das Gretchen spielte, ihr zuliebe auch sollte er
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