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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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oder die Schwester geschlagen, als sie sah, was diese gerade tat, sondern ihr nur in aller Ruhe das Buch aus den Händen genommen und zu ihr gesagt:
    Glaubst du, dass ich froh war, als du auf die Welt kamst?
    Vielleicht.
    Erinnerst du dich noch an die Glasmurmeln, mit denen du immer gespielt hast?
    Ja.
    Erinnerst du dich noch daran, wie ich gesagt habe, du solltest einmal versuchen, sie zu schlucken?
    Vielleicht.
    Was glaubst du, warum ich das wollte?
    Weiß nicht.
    Erinnerst du dich an die Mauer hinter dem Haus von Simon, dem Kutscher?
    Ja.
    Erinnerst du dich noch daran, wie ich gesagt habe, du solltest einmal versuchen zu springen?
    Vielleicht.
    Was glaubst du, wollte ich damals?
    Weiß nicht.
    Wenn du noch einmal dieses Buch anrührst, bist du nicht mehr meine Schwester. Verstehst du, was ich meine?
    Ja.
    Und jetzt war die schweigsame Schwester also an der Seite eines schweigsamen Mannes eine Straße entlang gegangen, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass die Kleine sie sah. Auch so ein öffentlicher Platz konnte, sogar mitten in der Nacht, preisgeben, was niemanden sonst etwas anging, genau wie ein aufgeschlagenes Buch, und in so einer großen Stadt wie Wien war nicht zu verhindern, dass jemand darin las. Sie stand gerade seit fünf Stunden an, damit die Schwester morgen Kuheuter essen konnte, um zu überleben, und auch, damit sie selbst Kuheuter essen konnte, um zu überleben, und ebenso Mutter und Vater. Die Schwester wiederum würde morgen, während sie, die Kleine, in der Schule war, mit der Mutter in den Wienerwald fahren, um Holz zu holen, stundenlang würde sie mit der Mutter durch den kalten Wald marschieren und sich abschleppen mit dem dreckigen, mit Wasser vollgesogenen Holz, nur damit ihre jüngere Schwester, und natürlich auch sie selbst, und Mutter und Vater zu Hause nicht erfroren. Und dennoch konnte es sein, dass dieselbe Schwester, wüsste sie, dass die Kleine sie beobachtet hat, wie sie an der Seite eines Mannes durch die nächtliche Wienerstadt ging, ihr den Tod wünschen würde, und diesmal vielleicht mit Erfolg. Wie viele solcher Fronten gab es in einem Leben, die einen das Leben kosten konnten? Es war so mühsam, all die Schlachten, in denen man nicht fallen würde, zu bestehen.
    16
    D ann aber schläft der Mann, kaum dass er neben ihr liegt, ein, die Wärme seines Körpers liegt neben der Wärme ihres Körpers, aber der Mann rührt sie die ganze Nacht über nicht an, nicht einmal im Traum. Die ganze Nacht hört sie ihn neben sich atmen, weiß aber von Atemzug zu Atemzug sicherer, dass es keinen Sinn hat, die Hand nach ihm auszustrecken. Das Weinen, das ihr seit der Abfahrt des Siebzig-Einunddreißig in der Kehle gesteckt hat, kommt nun endlich hervor, aber als ein anderes Weinen: Aus einem Weinen um die gestorbene Freundin verkehrt es sich, noch in ihrer Kehle, in ein Weinen aus Eifersucht auf die Tote, aus einem Weinen aus Trauer in eines aus Wut über den geliebten Mann, der sie zwar eingeladen hat, das Bett mit ihm zu teilen, sich aber nun weigert, sie zu trösten für den Verlust, den er gerade erleidet. Irgendwann, am Ende der Nacht, weint sie nur noch aus Scham. Auf eine Frage, die sie, wenn es nach ihr gegangen wäre, noch lange nicht, und vielleicht nie gestellt hätte, hat sie nun, ein für allemal, Antwort. Antwort, die sie niemals hätte erfragen wollen, nämlich die, dass der Mann freundlich ist, sie jedoch nicht liebt, dass seine Trauer um die Verstorbene tief und wahrhaftig ist, während ihrem eigenen doppelbödigen Wesen nichts in der Welt entspricht. Wie gleichgültig wäre ihr, hätte nur er allein so gedacht wie sie, das Urteil von Vater, Mutter und Freunden gewesen, durch die Niederlage jedoch ist sie nun unwiderruflich verurteilt. Schlafend hat er sie in die Hoffnung geschickt, und schlafend auch sie vernichtend geschlagen. Einsamer als je steht sie im Morgengrauen von der Seite des Schlafenden auf, niemand, der wüsste, was sie gehofft hat, wünschte sich mehr mit ihr Umgang, nur sie selbst muss ihren Leib, der sie so in die Irre geführt hat, weiter ertragen. Wäre sie noch in der Nacht nach Hause gegangen, wie sie ursprünglich wollte, wäre der Weg nichts weiter gewesen als Schritte, als ein Fuß vor den andern. Jetzt aber weiß sie, was es bedeutet, wenn die Möglichkeit, den Rückweg anzutreten, nicht mehr besteht. Sie sucht ihre Sachen zusammen und verlässt, ohne den Mann zu wecken, die Wohnung.
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    I rgendwann gegen Morgen ist sie doch, aber wann denn, ich

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