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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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früher nach Haus kommen wird, weil das Büro nach 14 Uhr nicht mehr geheizt wird. Wenn sie aber schläft, setzt er sich gern neben ihr Bett und unternimmt einen weiteren Versuch zu ergründen, was ihm seit einiger Zeit als das große Rätsel der Menschheitsgeschichte erscheint: wie nämlich Vorgänge, Zustände oder Ereignisse, die allgemeiner Natur sind – zum Beispiel ein Krieg, oder lang andauernder Hunger, oder auch ein Beamtengehalt, das nicht an die rasende Inflation angepasst wird – in ein beliebiges privates Gesicht hineinschlüpfen können. Hier machen sie ein paar Haare grau, dort fressen sie ein paar liebliche Wangen auf, bis die Haut nur noch über kantige Kiefernknochen gespannt ist, die Abspaltung Ungarns führt vielleicht in dem Gesicht irgendeiner Frau, es kann auch seine eigene sein, zu zerbissenen Lippen. Von ganz weit außen nach ganz weit innen wird also fortwährend übersetzt, nur gibt es dabei für jeden einzelnen Menschen ein eigenes Vokabular, und deshalb hat wohl bisher niemand erkannt, dass es sich dabei überhaupt um eine Sprache handelt, und zwar um die einzige, die für die ganze Welt und alle Zeit Gültigkeit hat. Wenn einer nur ausreichend viele Gesichter studierte, könnte er sicher aus Falten, zuckenden Augenlidern oder glanzlos gewordenen Zähnen auf den Tod eines Kaisers Rückschlüsse ziehen, auf ungerechtfertigte Reparationszahlungen oder eine erstarkende Sozialdemokratie. Seine Frau fragt nicht danach, warum er sich die »Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark« mit nach Hause gebracht hat, warum er Abend für Abend darin liest und sich die wichtigsten Stellen abschreibt, dabei sind dort minutiös eben solche Vorgänge notiert, wie er sie nun mit ganz andern Augen zu sehen vermag: Wie nämlich ein und dieselbe Ursache tausenderlei verschiedene Wirkungen haben kann auf verschiedene Landstriche und Orte. Es ist ihm, als würde von allem, was er sieht und was ihm begegnet, auf einmal die Schicht abbröckeln, die ihn bisher am Verstehen gehindert hat, und er vermöchte nun endlich das, was darunter liegt, zu erkennen. Gemüter hier Landschaft , notiert er zwischen dem einen Zitat und dem andern. Welch ein glücklicher Umstand, dass diese Beobachtungen gerade ihm in die Hände gefallen sind, ihm, der sich vorgenommen hat, so lange seine Kraft noch hinreichen mag, diese Ursprache, wie er sie nennt, zu erforschen. Menschen, die auf festem Boden standen, verspürten ein leichtes Vibrieren der Erde. Nichts anderes hält ihn an diesem elenden Leben, in dem ein Beamter der neunten Klasse zusehen muss, wie seine Familie verhungert.
    8
    S o, jetzt noch Händewaschen, und fertig.
    Hab ich noch Wasser?
    Ja.
    Gut.
    Das Wasser, mit dem der Eimer bis zur Hälfte gefüllt ist, ist von einer dünnen Eisschicht überzogen.
    So ein Schlamassel.
    Egal.
    Die alte Frau steckt die Hände durch die Eisschicht hindurch ins Wasser und wäscht sie.
    Mei, ist das kalt.
    Und weiter im Text.
    Hut, Schal und Handschuh.
    Ach, Stiefel.
    Hätt ich doch beinahe auf meine Füß vergessen.
    Und das bei dem Schnee.
    Na, so ein Schlamassel.
    Aber ich komm noch zurecht, ich komm noch zurecht.
    Nur keine Eile.
    Die Karte.
    Hätt ich doch beinah auf die Karte vergessen.
    30 Deka Fleisch.
    Na, wollen mal schauen.
    Jeden Morgen geht sie auf den Markt und reiht sich an. Im zweiten Kriegsjahr, als sie in Wien noch neu, und Gemüse noch keine Mangelware war, hatte sie, so wie zu Hause, Karotten, Erdäpfel oder Kohl gern mit den Fingern befühlt.
    Nehmen’s Ihre Finger weg, hatten die Wiener sie angeschrien, manchmal ihr auch auf die Hand geschlagen, wie einem ungezogenen Kind.
    Man wird wohl ein bissel schauen dürfen, bevor man kauft.
    Schauen ja, aber nicht tatschen!
    Später stieß man sie einfach beiseite, wenn sie, was für ihren Magen bestimmt sein sollte, anfassen wollte. Feuer, Heuschrecken, Blutegel, Pest, Bären, Füchse, Schlangen, Wanzen und Läuse . Aber machten die Leute sich überhaupt jemals Gedanken darüber, was das hieß, einfach so Dinge, die in der Welt wuchsen, sich einzuverleiben?
    Egal. Zol es brennen .
    Inzwischen haben die meisten Händler gegen diese Unsitte der Flüchtlinge aus Galizien Schilder ausgehängt: Das Berühren der Ware mit den Fingern ist strengstens verboten.
    Ja, wenn da wenigstens eine Ware wäre.
    Hätte sie damals in ihrem eigenen Geschäft der Kundschaft das Betasten der Ware verboten, hätte sie gleich zumachen können. Wenn sie daran denkt, was sie bei der Flucht

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