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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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weiß nicht, um sechs, oder um sieben? Ich weiß nicht. Hat sie geweint? Ich glaube nicht. Nur gewundert, dass sie nicht aufstehen wollte, auch um 9 Uhr hat sie noch immer, den ganzen Montag nicht aus dem Bett, die Augen geschlossen, aber trotzdem nicht geschlafen. Und nichts gegessen. Und nicht einmal Kaffee. Den ganzen Tag nur gelegen. Liegen und nie mehr aufstehen, hat sie zu mir gesagt. Ach wirklich. Auch am Dienstag nicht in den Wald. Kein Mensch auf der Welt. Am Mittwoch habe ich von der Mizzi die Eier, aber sie wollte ihres nicht haben. Und dann, in der Nacht drauf, das Haar ab. Genau. Bin nicht einmal mehr Schachspielen, ich hab wirklich gedacht, nach Steinhof. Ich auch. Das schöne Haar. Aber am Freitag schien es ihr wieder besser. Ja, so kam es mir. Ganz ruhig. Am Samstag Neuschnee, zum ersten Mal wieder hinunter. Noch meinen Mantel übergehängt, unten gesagt, dass ihr schwindlig wird, wenn sie in den fallenden Schnee schaut. Und ich hab gesagt, dann schau nicht. Und ich hab gesagt, iss was Gescheits, dann stehst du auch wieder fest da. Und da hat sie den Mund aufgemacht und die Flocken hineinschneien lassen. Das stimmt. Ich hab noch gelacht. Ich auch.
    Und dann kam der Sonntag.
    18
    A m Sonntag will die Große, gottseidank, endlich einmal wieder ein wenig spazieren. Gehst du zu deiner Freundin?, wird sie von der Mutter gefragt. Ja, sagt sie. Während die Mutter die Tür hinter ihr zumacht, hört sie noch, wie diese dem Vater zuruft: Aber ein bisschen merkwürdig ist das schon, dass ihre Freundin sie nicht e i n Mal besucht hat, findest du nicht? Ja, wie denn, vielleicht mit dem Siebzig-Einunddreißig? Die Eltern sind selbst schuld daran, dass sie so wenig über die eigene Tochter wissen. Hat etwa jemand sie danach gefragt, ob sie sich überhaupt eine Schwester wünschte, oder ob Wien ihr bei dem einen Besuch wirklich so gut gefiel, dass sie gleich dorthin umziehen wollte? Als eine Handarbeitslehrerin im Lyzeum das von ihr mit viel Mühe genähte Puppenkleid als schlunzig und schleißig bezeichnete, hatte sie gewusst, dass sie in Wien auch nach Jahren noch immer fremd war und auch für immer fremd bleiben würde. Sie erinnert sich noch daran, wie die Großmutter unmittelbar nach ihrer Flucht aus Galizien bei ihnen gewohnt hat, für ein paar Tage hatte es da in der Küche wieder gerochen wie früher, nach Birnenkompott und Barches, aber als die Vorräte, die die Großmutter mitgebracht hatte, aufgegessen waren, hatte die Mutter sofort eine andere Wohnung für die alte Frau gesucht und den Töchtern verboten, diese dort zu besuchen. Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Erst damals war ihr klargeworden, dass auch sie selbst eigentlich jüdischer Herkunft war, der Vater aber ging Sonntag für Sonntag mit ihr und der Schwester zum christlichen Gottesdienst, um mit den anderen Beamten und deren Familien in der Beamtenbank zu sitzen. Seine Gattin sei nicht gut zu Fuß und besuche daher eine mehr in der Nähe der Wohnung gelegene Kirche, sagt der Vater seit über zehn Jahren zu seinen Kollegen, und ist so immerhin bis in die neunte Gehaltsklasse aufgestiegen, aber auch für einen Beamten der neunten Gehaltsklasse war es heutzutage kein Kunststück, ebenso elend zu verrecken wie die Affen, Kamele und Esel der Schönbrunnner Menagerie. War sie selbst im Verschweigen ihrer irregelaufenen Liebe der Freundin gegenüber jetzt schon genauso halbherzig und verlogen gewesen wie ihre Eltern? Und auch ihr hatte es nichts genützt, die Wahrheit für sich zu behalten, ausgesprochen wie unausgesprochen war eine Wahrheit ja dennoch da und verrichtete täglich das, was ihr Werk war. Landstraßer Hauptstraße, Arenbergpark, Neulinggasse, die gegen Margareten hin irgendwann Gusshausstraße und noch später Schleifmühlgasse heißt, schließlich die Margaretenstraße – der Zettel, auf dem die Mutter die Adresse der Großmutter notiert hat, lag in der Küchenschublade.
    19
    N a, dann wollen wir mal.
    Dann wollen wir mal.
    Jeden Sonntag fuhr sie in den Wienerwald, um Holz zu holen. Fuhr zur Endhaltestelle der Trambahn in Rodaun oder Hacking, zusammen mit vielen andern, die, so wie sie, Körbe trugen und Rucksäcke und Kraxen auf den Rücken geschnallt hatten, und ging von dort aus in den Wald, um Reisig aufzusammeln, vielleicht auch hier und da einen Ast abzubrechen, der nicht zu schwer war.
    Der Vetter hilft dir mit Kohlen, schön wär’s.
    Hut, Mantel und Handschuh.
    Gut.
    Für den Rückweg am Abend musste sie

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