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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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manchmal ein oder zwei Bahnen fortfahren lassen, bevor es ihr gelang, sich in einen der überfüllten Wagen zu drängen, im Dunkeln blieb sie deshalb oft über eine Stunde lang an der Haltestelle stehen und fror, während in der erleuchteten Trambahn die Menschen saßen oder standen, und das Holz, das sie gesammelt hatten, aus den Rucksäcken und Kiepen hinaus ihnen über die Köpfe wuchs.
    Den Korb noch.
    Und den Rucksack.
    So ein Trambahnwagen sah von draußen aus wie ein Aquarium, hinter den beschlagenen Scheiben wogten, wenn der Wagen anfuhr oder bremste, all die Menschen mitsamt ihrem Gewirr aus Zweigen wie ein einziger großer Organismus vor und zurück.
    Ach, verheddert sich das.
    So ein Schlamassel.
    Die Stiefel.
    Jetzt fliegt das oben wieder raus.
    Ach, diese Shvachkeit.
    So.
    Schon manchmal hatte sie gedacht, dass die Not die Menschen einander immer ähnlicher machte, die Bewegungen aller, bis in die Hände und Finger hinein, immer berechenbarer. Wenn sie im Wald anderen Leuten begegnete, die auf der Suche nach Holz waren, sah sie deren Bücken, Zerkleinern der Zweige, das Abstreifen der trockenen Blätter, und all das war genauso wie ihr eigenes Bücken, Zerkleinern und Abstreifen. Wenn es um nichts anderes mehr ging, als darum, das Hungern und das Frieren zu überleben, schlüpften alle Menschen in die gleiche Sparsamkeit der Bewegungen und Tätigkeiten hinein, die ihnen vielleicht noch von der Zeit her, als sie Tiere waren, gemein war, während alles, was sie voneinander unterschied, plötzlich klar erkennbar wurde als Luxus.
    Jetzt ist es gut.
    Ach, hätt ich doch beinahe auf den Schlüssel vergessen.
    Das wär was gewesen.
    20
    M an muss nur gehen, dann verwandelt sich so ein hingekritzelter Straßenname mit Haus- und Wohnungsnummer in einen Weg, mit Häusern zur Rechten und Linken, mit Wetter, kaltem und feuchtem, mit dem Geräusch von Schritten durch Schnee und Schneematsch, mit anderen Menschen, die dies oder das wollen oder zu tun haben, führt einen vorüber an Gasthäusern, die spärlich erhellt sind, an Geschäften, deren Schaufenster beinahe leer sind oder durch Rollläden ganz verschlossen. Es ist ein niedriges Haus, in dem die alte Frau wohnt, ein steinerner Engel wacht über den Eingang. Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Als die Alte nach ihrer Flucht in Wien angekommen und die ersten Tage bei der Tochter einquartiert war, hatte sie ihrer großen Enkelin von den zwei Engeln erzählt, die Lot den Untergang Sodoms verhießen und ihn in Sicherheit brachten. So schön seien diese Engel gewesen, dass die Bürger von Sodom sie am liebsten zerfleischt und sich einverleibt hätten, hatte die Großmutter gesagt. Shain vi die zibben velten. Schön wie die sieben Welten. Jetzt, als die Große die Klinke niederdrückt und versucht, sich daran zu erinnern, wie die Großmutter diesen Satz zu ihr gesagt hat, kommt er ihr fremdartig vor, und sie weiß nicht, ob sie ihn vielleicht nur geträumt hat. So schön. Das Torhaus stinkt und ist dunkel, über einer Tür im Parterre ist das Blechschild mit der Wohnungsnummer befestigt. Von den Fenstern, die vom Stiegenhaus auf den Hof gehen, sind offenbar etliche schon zersprungen und durch Holztafeln ersetzt. Der schöne Mann, ach, seine Lippen, die Nasenflügel, die Wimpern. Hat denn die Schönheit nie einen anderen Sinn gehabt, als alle, die sich ihrer bemächtigen wollen, gegeneinander aufzuhetzen und schließlich dazu zu bringen, das Schöne zwischen sich oder, wenn das nicht gelänge, stattdessen sich selbst zu zerreißen? Sie läutet, und klopft auch an die Tür, aber es macht ihr niemand auf. Als Mädchen war sie noch vor das Rathaus gezogen und hatte gefordert, den Krieg zu beenden. Nun war sie mitten in ihrem eigenen Krieg, in dem kam es ihr, fern von Bomben, Granaten und Giftgas, dennoch unendlich schwer vor, einen Tag von morgens bis abends und durch die Nacht hindurch zu überleben.
    21
    W as haben wir denn in Himmels Herrgotts willen am Sonntagabend gemacht?
    Von den 14 Personen, die 1898 dem Blitze zum Opfer gefallen sind, waren 2 innerhalb von Gebäuden, 2 unter Bäumen, 1 unter einem Wegkreuze, unter dem sie Schutz gesucht hatte, und 7 auf freiem Felde (darunter 2 Schnitter während der Arbeit) vom Blitzstrahl getödtet worden. In 2 Fällen konnte ich die näheren Umstände nicht in Erfahrung bringen. Bei Laufen an der Sann traf der Blitz ein Weib, das eine Haue am Rücken trug. Das Weib wurde gelähmt und es blieb ihm am Rücken ein

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