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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Mal zurück, das die Form der Haue hatte.
    Die Mutter hat am Sonntagabend, nachdem die Große gegangen ist, neue Schnürsenkel in die Schuhe der jüngeren Tochter gefädelt. Der Vater hat am Sonntagabend, nachdem die Große gegangen ist, seine Akten auf dem Küchentisch ausgebreitet und darin gelesen. Die Kleine hat am Sonntagabend, nachdem die große Schwester gegangen ist, ihre Mathematikhausarbeit für die Schule gemacht. Die Mutter hat dann das Nähzeug aus dem kalten Salon geholt und begonnen, Strümpfe zu stopfen. Der Vater hat dann probiert, ob er mit Brille besser lesen kann als ohne, hat die Brille heruntergezogen und darüber hinweggeschaut, und sie dann wieder hinaufgeschoben, und schließlich gesagt: Diese Schrift ist gar nicht so leicht zu lesen. Die Kleine hat dann Holz nachgelegt. Das Holz hat gezischt, weil es so feucht war. Die Mutter hat gesagt: Geh, wasch dir die Hände, sonst patzt du dein Heft an. Die Kleine hat sich im Eimer die Hände gewaschen. Die Mutter hat den Faden abgebissen. Der Vater hat die Seite der Akte umgeschlagen. Die Kleine hat die Hände am Kleid abgewischt und sich wieder zurück an den Tisch gesetzt. Die Mutter hat im Nähkasten einen andersfärbigen Faden gesucht. Der Vater hat seine Brille beiseite gelegt und weiter gelesen. Die Kleine hat ihre Feder ins Tintenfass eingetaucht und ihre Rechenaufgabe gelöst. Die Mutter hat gehustet. Der Vater hat wieder eine Seite der Akte umgeblättert.
    22
    M argaretenstraße, Heumühlgasse, halt irgendwo entlang, Rechte Wienzeile, quer über den Naschmarkt, Linke Wienzeile, irgendwo, Girardigasse, Gumpendorfer Straße, Stiegengasse, Windmühlgasse, überall liegt der Schnee schulterhoch zu beiden Seiten der Straße, Theobaldgasse, Rahlgasse, rechts so gut wie links, Mariahilfer Straße, Babenberger Straße, Opernring, und glatt ist es, spiegelglatt. Will sie wirklich in den Opernring einbiegen? Oder lieber nach links in den Burgring? Heute ist es eine Woche her, dass sie mit dem Mann, den sie liebt, in der Alserstraße auf den Siebzig-Einunddreißig gewartet hat. Wie lang dauert eine Woche? Weil beim Straßenübergang nach links, zum Kunsthistorischen Museum hin, zwei riesige Schneehaufen sind, und dazwischen eine glattgefrorene Pfütze, biegt sie rechts ein. Drüben im Opernhaus, auf der anderen Seite der Straße, sind die Musik und das Musikhören zusammengesperrt. Und wozu geht sie draußen herum? Damit ihr Hören und Sehen vergeht? Um sich zu ergehen? Um zu zergehen? 2 Pfund Butter, flüstert ihr jemand in den kalten Rücken hinein. Wieviel? Sie geht. 2 Pfund Butter und 50 Deka Kalbfleisch. Unter der breiten Krempe ihres Hutes hindurch schlüpft das, was der Mann ihr zuflüstert, von hinten an ihr Ohr. 2 Pfund Butter, 50 Deka Kalbfleisch, 10 Kerzen. Obgleich die ganze Welt hier draußen doch offen ist, und sie geglaubt hat, dass das Hören dadurch vergeht, hört sie, was der Mann ihr im Tausch für sie selbst offeriert. Will sie? Oder will sie lieber nach Haus gehen, wo das stattfindet, was ihr Leben heißt: Der Vater liest in seinen Akten, die kleine Schwester macht ihre Hausarbeit, die Mutter nennt sie, die große Tochter, eine Hure. Wie lang ist es her, dass die Eltern gemeinsam aus waren? »Salome« wird heute gegeben. Weiß sie, was dagegen spricht? Oder weiß sie es eigentlich nicht? Als sie sich umdreht, sieht sie einen jungen Mann, nur wenig älter vielleicht als sie selbst, er trägt keinen Hut, und deshalb sieht sie mitten im Winter sein dünnes Haar, mit Mitte zwanzig wird er vielleicht schon eine Glatze haben, denkt sie, und wundert sich darüber, dass ihm Schweißperlen auf der Stirn stehen, jetzt, mitten im Winter.
    2 Pfund Butter, wiederholt er jetzt, indem er sie ansieht, 50 Deka Kalbfleisch, 10 Kerzen.
    Sagt ihr ins Angesicht ihren eigenen Preis.
    Und warum nicht 12 Kerzen, sagt sie, und fängt an zu lachen.
    Die Zeiten, in denen es selbstverständlich war, dass der frischgefallene Schnee von den Straßen der Wiener Innenstadt mit Karren immer sofort zur Donau geschafft und in die vom Eis freigeschlagene Fahrrinne hineingekippt wurde, sind schon lange vorbei. Die nun durch den Krieg fehlen, sind die frischgefallenen Männer. Jetzt wird der Schnee von ein paar Kriegsinvaliden, von Frauen und Kindern allenfalls beiseitegeschoben und aufgehäuft, die Haufen beginnen an wärmeren Tagen zu schmelzen, zerfließen rings um sich selbst und frieren dann ausgerechnet dort, wo der Weg frei bleiben sollte, über Nacht wieder

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