Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
fest. Die Eisdecke, die die Wiener Gehsteige deshalb gerade an vielbegangenen Stellen bedeckt, ist im Laufe des Winters schon so hart und dick geworden, dass niemand mehr auch nur versucht, sie zu zerstoßen. Diejenigen Fußgeher, die von der Babenberger Straße hinüber wollen zum Kunsthistorischen Museum oder den Burgring auf der linken Seite stadtauswärts entlanggehen, müssen gut achtgeben, dass sie nicht stürzen. Der Kapitän Eduard Gabler zum Beispiel erlitt gestern im Freudenauer Winterhafen durch einen Sturz einen mehrfachen Bruch des Unterarms, der Private Franz Adler brach sich auf der Marxergasse ebenfalls den Unterarm, der Fabrikant Moritz Gerthofer erlitt in der Nobilegasse einen offenen Bruch des rechten Unterschenkels, und die Pflegerin Frieda Bertin erlitt in der Mariahilferstraße, also gar nicht weit von hier, durch Sturz eine schwere Quetschung der linken Hüfte. Das Eis zwischen den beiden Haufen zur rechten und linken des Übergangs über die Babenberger Straße Richtung Kunsthistorisches Museum, also stadtauswärts, ist aufgrund des dortigen Publikumsverkehrs schon längst wieder blank, obgleich gestern zunächst frischer Schnee darauf gefallen war und es zugedeckt hatte. Aufgrund der unzähligen Schuhe jedoch und auch einiger bloßer Füße, die seither auf diese Stelle getreten sind, hat sich der Schnee bereits im Laufe des Vormittags mit dem Eis wieder unauflöslich verbunden und ist selbst Eis geworden. Dieses Eis sieht, obgleich sich dort naturgemäß kein tiefes Wasser unter der Oberfläche verbirgt, schwarz aus und hat etwa die Form des afrikanischen Kontinents in verkleinertem Maßstab. Die Schneiderin Cilli Bujanow glitt gegen 14.30 Uhr auf diesem Eis beinahe aus, wurde jedoch von Herrn Oberrechnungsrat Alfred Kern, der zufällig hinter ihr ging, abgestützt und so vor dem Stürzen bewahrt. Das siebenjährige Mädchen Leopoldine Thaler übte im Vorübergehen auf der Pfütze das Schlittern, der elfjährige Schüler David Robitschek versuchte durch Springen, das Eis zu zersplittern, was ihm jedoch nicht gelang, ein herrenloser Hund unbekannter Provenienz verursachte durch Pinkeln an den rechten Schneehaufen das Schmelzen eines Teilstücks des Eises, etwa in der Höhe des ehemaligen Deutsch-Ostafrika, sowie dessen Gelbfärbung bis ungefähr hin zum Niger. Gegen 18 Uhr ist auch diese Stelle bereits wieder gefroren, allerdings bleibt das Eis dort leicht aufgeworfen und rauh. Die junge Dame, die gegen 18 Uhr zunächst in Erwägung zieht, die Babenberger Straße genau hier zu überqueren und nach links hinüber zum Kunsthistorischen Museum zu gehen, müsste jedoch, bevor sie die Rettung versprechende, rauhere Gegend oberhalb des Äquators erreicht, die dem Schuh Halt bieten würde, ihren Tritt aufs spiegelblanke Südafrika setzen, davor schreckt sie im letzten Moment zurück, und wendet die Schritte nach rechts, gen Opernring.
Sie sind wohl gar keine, fragt der Blasse, da hat sie schon längst wieder aufgehört mit dem Lachen, sie sagt: Nein. Sie wundert sich, dass der junge Mann so schwitzt, obgleich er seinen Mantel nicht einmal zugeknöpft hat. Dabei wäre sie gern billig, nur um nicht mit aller Zeit der Welt für immer allein zu sein. Wievielen Menschen auf der Welt kann eigentlich alle Zeit der Welt auf einmal gehören? Will sie? Aber sie geht mit ihm auf ein Achtel. Das ist. Sie wisse gar nicht, wie dankbar. Im Café greift er nach ihren Händen und hält sie an sein Gesicht, wischt sich mit ihren Händen die Tränen aus dem Gesicht und den Rotz von der Nase, sie entschuldige ihn vielleicht, er sei noch nie bei so einer, aber vorhin wollte er, sie verstehe vielleicht, seine Verlobte sei nämlich nicht mehr, sie habe, und habe ihn abserviert, obgleich schon zwei Jahre, eine Verlobung sei doch, oder gelte das –
Wie lang dauert eigentlich so ein Leben?
Siebzig oder achtzig Jahre?
Dabei weiß sie doch jetzt schon mehr, als sie aushält.
– sehen würde die schon, wenn er, genauso treiben wie die, am liebsten mit jeder, eigentlich aber gehöre sie umbracht.
Ach, denkt die junge Frau, deren Hände schon ganz nassgeweint sind. Kennt dieser Mensch sie etwa? Weiß er, was sie gewünscht hat? Weiß er, wie sehr das Leben sie anstrengt, das von innen für sie schon immer so ausgesehen hat wie eine Kugel, deren Wände ganz glatt und ganz schwarz sind, und man läuft immer und läuft, und dabei gibt es nicht einmal eine kleine schäbige Tür, um hinauszugelangen?
Erschossen hätte er sie,
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