Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
nahm.
Die Mauser C96 ist eine Waffe, die im Ersten Weltkrieg nicht regulär zum Einsatz kam, sich aber dennoch großer Beliebtheit erfreute. Die Besonderheit an der C96 ist, dass das Magazin sich nicht innerhalb des Griffstücks der Waffe befindet, sondern vor dem Abzugsbügel. Am Sonntag, dem 26. Januar 1919, setzt gegen 23 Uhr und 17 Minuten in einem Taxi, das eben vor der Alserstraße Numero 4, Allgemeines Krankenhaus Wien, vorgefahren ist, 48.21497 Grad nördlicher Breite, 16.35231 Grad östlicher Länge, Herr Ferdinand G., Medizinstudent im 3. Semester, einer gemeinsamen Absprache folgend, den Lauf der handlichen Waffe an die Schläfe einer ihm nur flüchtig bekannten jungen Frau, und drückt, als in genau diesem Augenblick draußen ein Hund bellt, quasi als Antwort auf das Bellen des Hundes, tatsächlich ab.
Endlich muss sie nicht mehr in diese Haut eingesperrt sein. Endlich hat ihr dieser Irgendwer mit einem Schuss die schäbige Tür aufgemacht, und sie gelangt ins Freie. Heilung und Trost den Kranken. Eine Tote hat eine unendliche Verwandtschaft, unendlich wird sie jetzt geliebt und kann lieben, wen immer sie lieben will, und sich dabei mitsamt ihren toten Gedanken ganz und gar in alle Anderen auflösen. Hat man je einen so weichen Mund bei einem Mann schon einmal gesehen? Auf diesem Mund treibt sie nun, durch und durch vermischt mit dem, den sie liebt, weit fort, das Wasser sind sie und sind auch der finsterblaue Himmel über dem Wasser, und alle, die hinter den zwei unendlichen Reihen von Fenstern eingesperrt waren, haben jetzt die Fenster weit aufgemacht und atmen tief ein und aus.
Aber dann fällt ein zweiter Schuss, und das Blut von diesem Irgendwem fällt auf ihr Gesicht, Irgendwessen Blut macht ihr Haar nass, oder ist es ihr eigenes Blut, jetzt erst auch merkt sie, dass ihr der Schädel vor Schmerzen zerspringt, aber warum zerspringt er nicht wirklich, sie sollte doch tot sein? Jemand öffnet den Schlag, der Taxifahrer reicht der Totgeschossenen den Arm, damit sie aussteigen kann, kalte Wiener Luft dringt da in ihren Schädel, streift dicht über ihre Gedanken hin, bloßgestellt ist sie bis unter die Haut. Um Himmels Herrgotts Willen, hört sie den Fahrer sagen, und hört auch das schäbige Wiener Weinen des Irgendwer, der offenbar nicht in der Lage war, sich und sie, wie vereinbart, gekonnt zu erschießen. Vor ihren geschlossenen Augen erscheint ein spiegelblankes Südafrika, sie setzt ihren Fuß darauf und gleitet aus, und dann fällt sie, und fällt, und fällt. Hätte ich nur gewusst, dass es, wenn man durch die Tür hindurch ist, keinen Fußboden gibt, denkt sie, und dann hört sie auf mit dem Denken, so, wie sie es sich gedacht hat.
Die Mutter schläft, es schläft der Vater, und die Schwester träumt unruhig, schläft aber auch. In einer Mappe, die in der dunklen Küche auf dem Küchentisch liegt, ruhen die Papiere des Vaters, aber niemand liest mitten in der Nacht darin, niemand fragt sich, was am 20. August 1897 in Wetzelsdorf am Fuße des Buchkogels geschah: Die Vögel in den Käfigen fielen von den Sprossen herab, die Menschen sprangen entsetzt aus den Betten, ein allgemeiner Schrecken ergriff alle. Zugleich gieng ein heftiger Platzregen nieder. Im Zimmer der beiden Mädchen liegt, hinter dem Schrank versteckt, ein dickes Schreibheft mit den Tagebuchaufzeichnungen der Großen.
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A ls gegen 4 Uhr früh die Polizei so laut gegen die Wohnungstür schlägt, dass das Glas klirrt, das in der oberen Hälfte eingesetzt ist, wacht die Mutter als Erste auf. An den folgenden drei Tagen ist die Große nicht bei Bewusstsein, bis auf das Heben und Senken des Brustkorbs liegt sie vollkommen regungslos im Krankenhausbett, aber so, ohne jede Bewegung, ringt sie doch, wie es heißt, innerlich mit dem Tode. Die Mutter beschwert sich bei den Schwestern darüber, dass ihre Tochter unter diesen Umständen in einem Zimmer mit zwölf Betten liegen muss. Der Vater sagt: Lass doch. Die Mutter beschwert sich über den Gestank und über das Schreien der anderen Kranken. Der Vater sagt: Komm. Die Mutter fragt den Arzt, der im Gespräch ihre Tochter unbedacht eine Selbstmörderin genannt hat: Waschen Sie sich überhaupt jemals die Hände?
Der Vater sitzt still am Sterbebett seiner älteren Tochter.
Hast du vielleicht die Trauerränder unter seinen Nägeln gesehen?
Nein.
So einer fasst mir jedenfalls nicht mein Kind an.
Ein Mann macht sich aus einem alten Stück Stoff einen Rock.
Als der Rock zerschlissen
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