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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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ist, macht er sich aus dem Rock eine Weste.
    Als die Weste zerschlissen ist, macht er sich aus der Weste ein Tüchlein.
    Als das Tüchlein zerschlissen ist, macht er sich aus dem Tüchlein eine Kappe.
    Als die Kappe zerschlissen ist, macht er sich aus der Kappe einen Knopf.
    Aus dem Knopf macht der Mann ein Garnichts.
    Aus dem Garnichts aber macht er sich dieses Liedchen.
    In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, irgendwann zwischen Mitternacht und ½ 2 Uhr früh, zwischen dem ersten und dem zweiten Kontrollgang, den die Krankenschwester durchs Zwölfbettzimmer macht, hört die junge Frau schließlich auch auf mit dem Atmen. Ein Beamter der Katholischen Gemeinde zu Wien trägt am Vormittag den Namen der jungen Frau in das große Sterbebuch ein. Die Kleine, die am Nachmittag, gleich nach der Schule, zu Besuch kommt, tritt an ein leergeräumtes Bett, und als sie nach der Schwester fragt, sagt man ihr, diese sei schon hinübergebracht in die Abstellkammer für die, die tot sind.
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    U nd der Mörder lebt noch, sagt die Mutter, der Mörder meiner Tochter hat sich’s gerichtet, und das Mädchen ist tot.
    Lass doch, sagt der Vater, es ist noch gar nicht gesagt, dass der Mensch überlebt.
    Lass doch, sagst du, wenn unser Kind sich von so einem erschießen lässt.
    Von was für einem denn, fragt die jüngere Tochter, die jetzt bald nur noch die Tochter genannt werden wird.
    Ich sag dir, wenn du anfängst, dich wie deine Schwester herumzutreiben, kriegst du es mit mir zu tun.
    Es heißt, sie habe ihn gar nicht genauer gekannt, sagt der Vater.
    Und wenn schon, zum Totschießen hat’s gereicht.
    Die Kleine schweigt. Das Verbot der Schwester, ihre Geheimnisse in Erfahrung zu bringen, und sie womöglich gar an die Eltern oder an sonstwen, den das nichts angeht, zu verraten, ist noch lebendig. Und was würde es jetzt im Nachhinein nützen, wenn sie den Eltern sagte, dass sie am Sonntagabend vor anderthalb Wochen die Schwester mit einem Mann durch die Straßen von Wien hat gehen sehen?
    Bis zum Sonntag vor anderthalb Wochen war die Welt noch in Ordnung, sagt der Vater. Sicher, sagt die Mutter.
    Irgendwann gegen Morgen ist sie am Montag doch, sagt der Vater, auch am Dienstag, sagt die jüngere Tochter, kein Mensch auf der Welt, der Vater, am Mittwoch habe ich, und dann, in der Nacht drauf, sagt die Kleine, genau, am Freitag schien es, der Vater, am Samstag Neuschnee, sagt der Vater, die jüngere Schwester sagt: Und dann kam der Sonntag.
    Hört doch auf, sagt jetzt die Mutter zu ihrem Mann und der Tochter, so macht ihr sie auch nicht wieder lebendig.
    Dass man nie weiß, was eigentlich vorgeht, sagt der Vater.
    Die Mutter sagt: Da kann man nur froh sein.
    Was haben wir nur in Himmels Herrgotts Namen am Sonntagabend gemacht, fragt der Vater, und fängt an zu weinen.
    27
    E rst am Freitagnachmittag, während im Pathologischen Institut bereits untersucht wird, welchen Weg die Kugel genommen, und ob die junge Frau sich nicht vielleicht doch selbst erschossen hat, macht sich der Vater auf den Weg nach Margareten. Die Mutter hat, wie sie sagt, mit den Formalitäten genug zu tun, und ums Leben muss sich schließlich auch jemand kümmern. Das Torhaus stinkt und ist dunkel, über einer Tür im Parterre ist das Blechschild mit der Wohnungsnummer befestigt. Die Großmutter sagt nichts, als sie erfährt, was passiert ist, sie beginnt nur, am ganzen Leibe zu zittern. Der Vater denkt daran, wie er damals zum ersten Mal in ihren Laden gekommen ist und ihre Tochter gesehen hat, deren Haut so weiß war, dass er schneeblind hätte werden können, wenn er als Käfer auf ihr herumspaziert wäre. Er denkt daran, wie die Kaufmannsfrau ihm wenig später das Bett ihrer Tochter gezeigt hat, und eine Katze lag zusammengerollt darin und schlief. Er nickt ihr nur stumm zu und wendet sich dann zum Gehen, die Wohnungstür macht er sich selber auf und macht sie auch selbst wieder hinter sich zu. Von den Fenstern, die in besseren Tagen einmal vom Stiegenhaus auf den Hof geschaut haben, sind etliche mit Brettern vernagelt.
    Nach Abschluss der Untersuchungen trägt der Beamte am Montag ins Sterbebuch als Todesursache Gehirnblutung ein, am Dienstag findet auf dem katholischen Teil des Zentralfriedhofs Wien, Tor III , die Beerdigung statt. Am Rand der schwarzen Grube spricht der Friedhofsdiener ein Gebet, der Vater und die jüngere Schwester bekreuzigen sich, die Mutter steckt die Hände in die Taschen ihres Mantels. Jeneh velt. Jene Welt. Jetzt könnte die

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