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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Großmutter sehen, dass die Enkelin es wenigstens bis auf den katholischen Friedhof geschafft hat, aber es ist ihr wahrscheinlich lieber, dass man auf sie wartet. Wieder einmal lässt sie ihre Tochter mit allem, was schwer ist, allein, so wie früher, nicht einmal das Laufen hat sie ihr selbst beigebracht.
    Vielleicht, denkt die Kleine, wäre alles ganz anders gekommen, wenn sie selbst damals auf Geheiß ihrer Schwester die Glasmurmeln geschluckt, von Simons Mauer gesprungen oder sich auf andere Weise von ihr hätte hinrichten lassen. War die Schwester nun an ihrer Stelle gegangen, oder hatte sie bei ihrem Sterben gar nicht an sie gedacht? Der Vater nimmt eine Handvoll Erde und wirft sie in die Grube. Der Schnee, von dem sich der ausgeworfene Erdhügel jetzt wie ein Haufen Dreck abhebt, ist gefallen, als die Tochter noch lebte.
    Drüben, hinter der hohen Mauer, die man von hier aus sieht, liegt der Israelitische Friedhof, kein Baum ragt dort in die Höhe, der Himmel da drüben ist ganz und gar frei, jemand, der sich nicht auskennt, könnte glauben, dass drüben Stadtbahngleise verlaufen oder Felder angelegt sind, aber die Mutter weiß, dass dort absichtlich keine Bäume gepflanzt sind, denn wucherten später einmal die Wurzeln der Bäume zwischen die Knöchelchen eines Begrabnen und lösten sie voneinander, wäre beim Jüngsten Gericht der Aufgerufene nicht mehr vollkommen.
    Nach der Rückkehr vom Friedhof isst die Tochter zum Nachtmahl ihre eigene Portion Schaffleisch, isst die Portion des Vaters, die dieser nicht herunterbringt, wie er sagt, und isst zum Schluss auch noch die Portion ihrer verstorbenen Schwester. Weil sie verschwiegen hat, dass es die Person gar nicht mehr gibt, hat die Mutter auch die der Verstorbenen zustehenden 12 ½ Deka frühmorgens am Großen Markt auf die noch gültigen Marken bekommen. Lieber Gott, lieber Gott, den wir Vater heißen, wenn du uns schon Zähne gabst, gib auch was zu beißen. Erst, seit ihre Schwester unter der Erde liegt, ist die jüngere Tochter so hungrig.
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    D ann aber klingelt der Vetter, der noch niemals zu Besuch gekommen ist, nur um zu sagen, dass. Ja, was denn? Dass die Großmutter noch am Abend desselben Tages, an dem sie vom Tod der älteren Enkelin erfahren hat, die Treppe zum Keller hinuntergestürzt und, wie der Vetter es ausdrückt, unglücklich gefallen und, nun, sie wüssten wahrscheinlich schon, was er meine. Es wird also tatsächlichnicht eher hell, als bis es ganz dunkel geworden ist. Die Mutter steht auf und stellt die schmutzigen Teller übereinander. Den Tisch gedeckt hat sie noch in dem Glauben, sie habe eine lebendige Mutter. Macht es eigentlich für jemanden, der die Wahrheit nicht kennt, einen Unterschied, ob einer tot ist oder nur sehr weit entfernt? Der Vetter habe einige Tage gebraucht, um die Adresse der Familie in Erfahrung zu bringen, das Begräbnis sei, der jüdischen Sitte gemäß, schon vorüber. Ist denn immer noch Krieg, denkt die Tochter, dass so viele auf einmal sterben? Ich weiß gar nicht, sagt der Vater, was sie im Keller wollte, sie hat doch sicher schon lang nimmermehr Kohlen. Ver vaist , sagt der Vetter. Dass er nun doch noch über den Ersten des Monats und den übernächsten und den überübernächsten Ersten hinaus am Leben bleiben muss, damit das Sterben kein Übergewicht bekommt, damit alles austariert ist und nicht doch plötzlich zu kippen beginnt, denkt der Vater nur, aber spricht es nicht aus. Tor IV , Feld 3, Reihe 8, Platz 12, schreibt der Vetter auf einen Zettel, die Mutter legt seinen Zettel, nachdem er fort ist, in die Küchenschublade.
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    M itten in einem verschneiten Feld, auf dem hier und da Grabsteine stehen, ganz hinten in der israelitischen Abteilung des Friedhofs, fände man leicht den aufgeworfenen, frischen Hügel. Tor I, Tor II , Tor III und schließlich Tor IV . Je nach dem Glauben, den einer im Leben hatte, liegt er unter der Erde in der Nähe der oder jener Haltestelle der Trambahn. Mehr als anderthalb Minuten Fahrzeit Unterschied gibt es nicht zwischen gestorbenen Protestanten, Katholiken und Israeliten. Vom Grab der Großmutter aus könnte ein Trauernder leicht hinüberschauen zur hohen Mauer, die den Katholischen Friedhof umgibt, und sähe hinter der Mauer die großen, verschneiten Bäume, und könnte in der Stille bis hierher das Geräusch hören, das der Schnee macht, wenn er, sich selber zu schwer geworden, von einem Ast abrutscht, und der Ast schnellt danach wieder in die Höhe.
    30
    K alt ist

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