Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
es in der Wohnung der verstorbenen Mutter, und dunkel. Sogar das Wasser im Eimer ist gefroren. Als sie es im Hof ausschütten will, fällt es als ein ganzer Eisklumpen zu Boden. Feuer , Heuschrecken , Blutegel , Pest , Füchse , Schlangen , Wanzen und Läuse . Von seinem ersten Wiener Gehalt hatte ihr Mann sie einmal ins Burgtheater geführt. Sie hatten auf den billigsten Plätzen gesessen und »Iphigenie auf Tauris« gesehen. Lebt wohl. Damals hatte sie geglaubt, dass sie besser als jeder andre im Saal in diesem letzten Moment, bevor der Vorhang sich schloss, verstand, was es hieß zu entsagen. Nie hat sie ihre Mutter je in der Gesamtausgabe von Goethe lesen sehen, aber jetzt stehen da sämtliche Bände auf dem Regal, ordentlich aufgestellt, neben der kleinen Standuhr, so wie früher zu Hause. Deshalb also war der Koffer, den die Mutter bei der Flucht mitgebracht hatte, so schwer gewesen. Lebt wohl. Ein ganzes Leben lang hat sie dafür bezahlt, dass sie ihr erstes Kind mit nichts weiter als einer Handvoll Schnee aus der Hölle zurückgeholt hat, und jetzt erst stellte sich heraus, dass es für manche Dinge gar keinen Preis gab. Keine Luft von keiner Seite!/ Todesstille fürchterlich!/ In der ungeheuren Weite/ Reget keine Welle sich! Also hatte die Mutter in Wahrheit ihr die Bücher gebracht? Auch den siebenarmigen Kerzenleuchter, der auf der Anrichte steht, packt sie in den Koffer. Saj mojchl, un fal mir mejne trep nit arunter. Jetzt ist es zu spät, um mit der Mutter Jiddisch zu sprechen. Von den Fenstern, die vom Stiegenhaus auf den Hof gehen, sind etliche durch Holztafeln ersetzt, den Engel über dem Eingangstor kann sie nicht sehen, weil sie sich nicht umdreht. Gern hätte sie jetzt gewusst, was es eigentlich war, wofür die Mutter ihr Leben lang bezahlt hat. Zu Hause findet sie im 9. Band, der am Rücken ein wenig abgeschabt ist, das Theaterstück, das sie zum großen Teil immer noch auswendig hersagen kann. Sie heizt nicht, sie wäscht auch nicht ab, sie geht sich nicht anreihen, sie näht nicht, stopft nicht und weint nicht, sie setzt sich, in Decken gewickelt, still in die Küche, und liest, so wie damals, als sie ein junges Mädchen war, die »Iphigenie«.
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S terben tut der Vater erst ein knappes Jahr später, am 2. Dezember 1920. Die Mutter verkauft seine Anziehsachen auf dem Schwarzmarkt. Vom Mantel schneidet sie jedoch vorher die goldfarbenen Knöpfe mit dem Adler der Monarchie ab und gibt sie in eine Schachtel. Das Dezembergehalt des Vaters, das der Witwe noch ausgezahlt wird, reicht zu dieser Zeit gerade für 1 Mittagessen. Immerhin bekommt die Tochter täglich in der Schule eine Extraportion Milch mit Kakao, von den Amerikanern.
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I m Jahr 1944 wird in einem Birkenwäldchen ein Heft mit handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen auf die Erde fallen, als ein Wachposten eine junge Frau mit seinem Gewehrkolben vorwärts stößt, und sie sich mit den Armen, mit denen sie vorher das Heft an sich gedrückt hat, zu schützen versucht. Das Heft wird in den Dreck fallen, und die Frau wird nicht zurückkommen können, um es aufzuheben, das Heft wird ein Weilchen dort liegen, Wind und Regen werden darin blättern, Schritte werden darüber hinweggehen, bis alle Geheimnisse, die dort aufgeschrieben sind, die gleiche Farbe haben wie der Morast.
INTERMEZZO
W äre die Großmutter aber nur eine halbe Stunde später von zu Hause fortgegangen, um Holz aus dem Wienerwald zu holen; oder wäre die des Lebens müde junge Frau, als sie von der verschlossenen Tür der Großmutter wegging und durch die Stadt irrte, von der Babenberger Straße nicht nach rechts in den Opernring eingebogen, auf dem sie ihrem Tod in Gestalt eines schäbigen jungen Mannes zufällig begegnete; oder hätte die Verlobte des schäbigen Mannes erst einen Tag später die Verlobung gelöst; oder der Vater des schäbigen Mannes seine Mauserpistole nicht in die unverschlossene Schreibtischschublade gelegt; hätte die junge Frau nicht von hinten ausgesehen wie eine Käufliche, weil ihr Rock einfach zu kurz war, warum nur hatte sie ihn ein halbes Jahr zuvor abgeschnitten; oder hätte sie, da es nun einmal kalt war, selbst auf die Gefahr des Ausrutschens hin, die Babenberger Straße doch an der eisigen Stelle überquert, statt sich mit gesundem Instinkt vor dem Ausrutschen zu bewahren, nur um kurz darauf dem Tod mit ungebrochenen Gliedern in die Arme zu laufen; ja, wäre sie denn ausgerutscht, hätte sich vielleicht sogar ein Bein gebrochen, dann wäre
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