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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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wenn sie nur aus ihrem Haus herausgekommen wäre, sagt er. Aber sie habe schon gewusst, zu was er jetzt, also sei sie oben geblieben, und was solle er nun machen, er habe nicht damit, er sei doch, er habe sie immer, und sei doch nie.
    Erschossen, fragt sie, ja wie denn?
    Hier drin, sagt er, und fährt mit der Hand in seinen rechten Mantelsack hinein, ist die Mauser von meinem Vater.
    Jetzt versteht sie auf einmal, warum sie mit diesem Mann hier sitzt, auf dessen Gesicht das, was, genau wie bei ihr, Liebeskummer genannt wird, so jämmerlich aussieht. Jetzt gibt es im Innern der Kugel, die für sie bisher immer unendlich war, plötzlich diese kleine schäbige Tür. Wissen Sie, sagt sie und entzieht dem Schluchzenden ihre Hände, es ist im Grunde genommen ganz leicht, Ihre Verlobte für ihr ganzes Leben zu kränken. So?, sagt er, und schaut wieder auf, indessen trocknet sie unter dem Tisch die Hände am Rock ab.
    Die Mutter sagt: Ich geh jetzt zu Bett, sie räumt das Nähzeug zurück in den Kasten und bringt den Kasten hinaus in den kalten Salon. Der Vater ruft: Ich komm auch. Die Schwester liegt schon seit einer halben Stunde im Bett, ist aber trotz der Dunkelheit noch immer wach. Der Vater nimmt die Karbidlampe am Henkel.
    Meinen Sie?, sagt er.
    Aber ja.
    Und wenn es schiefgeht?
    In der Alserstraße wird man, wenn es schiefgeht, schon helfen.
    Heilung und Trost den Kranken.
    Und wenn es grad geht, denkt sie, fahren wir von dort aus im stillsten Wagen der Neuen Tramwaygesellschaft gleich weiter.
    Jetzt ruf ich sie an und sag’s ihr.
    Aber nur einen Satz.
    Nur einen Satz.
    Er zahlt, sie sagt dem Kellner Aufwiederschauen, so leicht also geht man aus einer Welt in die andre. Die Telefonzelle ist genau gegenüber, als der Mann durch sein Körpergewicht den Fußboden schwer macht, geht das Licht an, eine Seele, denkt sie, würde also im Dunkeln telefonieren. Nur einen Satz. Sie wartet draußen im Schnee, sieht den Liebeskranken im Hellen reden, er spricht, er lauscht in den Hörer hinein, antwortet wieder, lauscht, widerspricht. Sie muss ihn aus dieser Zelle herausziehen, sonst rutscht er womöglich zurück auf die andere Seite, von seinem warmen Atem sind schon die Scheiben beschlagen, da macht sie die Tür auf.
    Im Hörer ruft gerade eine weibliche Stimme: Sprechen Sie doch in Himmels Herrgotts Namen morgen mit meiner Tochter!
    Morgen wird es zu spät sein!
    Aber wenn ich Ihnen doch sage, dass sie nicht da ist!
    Richten Sie ihr bitte aus, dass ich sie bis in den Tod –
    Sie haben doch das ganze Leben noch vor sich!
    Da schweigt er. Und sagt nichts. Sein dünnes Haar, mit Mitte zwanzig hätte er vielleicht schon eine Glatze. Da nimmt sie ihm in aller Ruhe den Hörer aus der Hand und spricht an seiner Stelle hinein:
    Verstehen Sie nicht: Er muss sterben.
    Wir müssen uns um 5 Uhr anreihen gehen. Du musst den Männern nicht immer so ins Gesicht schauen. Ich muss die ganze Arbeit allein machen. Die Großmutter muss selber sehen, wie sie zurechtkommt.
    Und er?
    Er muss nun einmal sterben, und sie muss auf seinem Schlitten mitfahren, ab in die Hölle.
    Das eine sagt sie, das andre denkt sie nur, und dann hängt sie auf.
    Die Mutter hört, wie der Vater die Küchentür schließt, damit die Wärme des Herdes sich dort bis zum Morgen hält, dann geht er ins Stiegenhaus, die Toilette ist eine halbe Treppe tiefer. Nachspülen mit dem Wasser aus der Bassena. Die Mutter dreht sich auf die andere Seite. Kaum ist die Große wieder gesund, weiß man schon wieder nicht, wo die sich rumtreibt. Aufgeopfert hat sie sich für diese Tochter, die damals als Säugling beinahe gestorben wäre, und das ist jetzt der Dank.
    Die Kleine mag es nicht, wenn das Bett der Schwester über Nacht leerbleibt. Nur ein Gutes hätte es, wenn die Schwester ganz ausziehen würde, wie sie es schon manchmal im Streit der Mutter angedroht hat: Dann würde sie, die jüngere Schwester, nicht länger die Kleine genannt werden. Der Lehrer hat am Freitag gesagt, Österreich habe jetzt nur noch ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe. Sie dagegen ist in den Kriegsjahren gewachsen, ein Meter siebzig inzwischen. Mit ihrer eigenen Größe haben die Grenzen des Landes, in dem sie wohnt, also nicht das Geringste zu tun, aber das wird sie morgen im Unterricht besser nicht sagen.
    Der Vater löscht das Licht und legt sich ins dunkle Bett neben die Mutter. Die bläulichen Schatten um die Kinnpartie der älteren Tochter haben ihn in der letzten Woche ungewünscht an etwas

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