Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
erinnert, an das er nicht erinnert sein will, aber seine Gedanken scheren sich nicht darum, ob er sie denken will, wenn es Zeit dafür ist, bahnen sie sich, so oder so, ihren Weg durch das Dickicht all dessen, was er irgendwann einmal gedacht oder erlebt hat.
Und nun stehen sie vor der Oper, Salome hat man schon längst den Kopf des Jochanaan auf einer Silberschüssel serviert, den blutigen Pappkopf mit den Haaren aus Wolle, der nun wieder in der dunklen Requisitenkammer im Regal gleich neben der hölzernen Schale liegt, die mit Silberfarbe bemalt ist. Sie haben sich darauf geeinigt, ein Taxi zur Alserstraße zu nehmen. Genau diesen Moment, wenn der Wagen vor dem Krankenhaus anhält, werden sie aus der vielen Zeit, die es gibt, herausnehmen, ein für allemal. Das Taxi fährt den Burgring hinauf, dann nach links in die Volksgartenstraße hinein, dann nordwärts die große Straße, die erst Museumsstraße, dann Auerspergstraße und schließlich Landesgerichtsstraße heißt, bevor die Alserstraße links von ihr abgeht. Die Fahrt dauert nicht länger als fünfeinhalb Minuten. In diesen fünfeinhalb Minuten wird im Fond des Automobils nicht gesprochen. Vor dem Eingang zum Krankenhaus hält der Taxifahrer, wie die Fahrgäste es sich gewünscht haben, an.
23
A ktion für die Opfer der drei Blutnächte von Lemberg: Hermine und Ignaz Klinger 100 Kronen, im Sinne meiner geliebten Mutter Frau Terka Korsky 120 Kronen, Frau Kamler 10 Kronen , Summe 230 Kronen , steht auf dem Zeitungspapier, aus dem die Alte sich einen Fidibus dreht. Sie hat es richtig gemacht. Angefangen beim Goj für die Tochter, über die Fahrkarte, die sie der jungen Familie für die Fahrt nach Wien zur Fronleichnamsprozession geschenkt hat, bis hin zu ihrer eigenen Flucht. Das Holz aus dem Wienerwald ist mit Flechten bewachsen, die beim Verbrennen übelriechende Dämpfe erzeugen. Blutnächte. Andrej. Die Kinderfrau, die ihr und ihrem Mann die Tür nicht aufmachen wollte. Das Leben ihres Mannes hatte der Allmächtige genommen, statt des Lebens der Tochter.
Wo könnte der Vater denn sein?
In Amerika, oder in Frankreich.
Interessiert dich das gar nicht?
Das weiß nur Gott. Geh, wasch dir die Hände.
Mochte die Tochter ruhig denken, dass sie aus dem oder jenem Grund unfähig gewesen war, den Vater zu halten. Gehalten hatte sie ihn, bis zum Ende, bis er nur noch ein Stück Fleisch war. Aber hätte sie der Tochter das etwa sagen sollen, hätte sie ihr sagen sollen, dass auch sie, die Mutter, damals beinahe nur ein Stück Fleisch gewesen wäre, und die Tochter selbst auch, und unter ähnlichen Umständen auch ihre Kinder immer wieder nur Fleisch sein würden, die Große, die Kleine? Konnte eine, die die Wahrheit nicht kannte, denn unterscheiden, ob jemand tot war oder einfach nur sehr weit entfernt? Die Schuld der Mörder sah jetzt wie ihre eigene Schuld aus, aber war das wichtig? In Lemberg haben erst kürzlich die Polen nach dem Sieg über die Ukrainer auf dem Hauptplatz gefeiert, während zwei Straßen weiter das jüdische Viertel in Brand gesteckt worden ist. Drei Nächte lang gefeiert. Jüdische Kinder, die weglaufen wollten, wurden von den Legionären in die brennenden Häuser hineingeworfen, hinter der Absperrung aber gab es Ziehharmonikamusik. Es vert mir finster in die oygen . In Wien hat sie zwar wenig Gesellschaft, aber sie ist am Leben. Ihre Tochter lebt, und es leben auch die beiden Mädchen.
24
R ote, Rote, ging ging ging, Feuer brennt in Wahring, Feuer brennt in Ottakring, bist a gselchter Haring! Dass die Versprechen nicht eingelöst werden. Dass niemand, der fragt, die Antwort hören will. Dass ihr eigenes Inneres, ihre Zunge, selbst bei einem Kuss, innerhalb des Anderen, immer ein Äußeres geblieben wäre. Die Grenzen auflösen, nichts sonst, darum wäre es ihr gegangen. Warum eigentlich war es nicht möglich, dass sie die Freundin liebte und auch deren Geliebten, was eigentlich wurde ihr da verweigert, und von wem? Warum durfte sie sich nicht in die Liebe hineinwerfen wie in einen Fluss, und warum schwamm, wenn man s i e schon nicht schwimmen ließ, in dem Fluss niemand anders? Warum nannte die Mutter sie eine Hure? Warum durfte sie niemandem sagen, dass ihre Großmutter jüdisch war? War denn so wenig Liebe in der Welt, dass es zum Zusammenleimen nicht reichte? Wozu gab es die Unterschiede, dieses Gefälle? Oder brachte erst ihre eigene Unzulänglichkeit die Dinge zum Fallen? Also war es höchste Zeit, dass sie sich aus der Welt
Weitere Kostenlose Bücher