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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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in ihrem dritten, ein Makel. Ihre Herkunft klebte nun einmal an ihr, und sie an ihrer Herkunft. Mit dem Denken hatte sie ganz von vorn anfangen können, aber nicht mit ihrer Familiengeschichte.
    Niemals würde sie den gleichen Grad von Freiheit besitzen wie ihr Mann, der für alle Zeiten frei war, doppelt frei , grundsätzlich frei sogar jetzt, während er im Gefängnis saß, denn er hatte Schlosser gelernt, bevor er anfing zu schreiben, war Lohnarbeiter gewesen, doppelt freier Lohnarbeiter , das hieß: Er besaß einerseits nichts, was ihn hielt, aber er konnte auch gehen, wohin er wollte. Er war, gesellschaftlich gesehen, nicht erpressbar. Die Arbeiterklasse hat nichts zu verlieren als ihre Ketten. Hatte sie selbst aber tatsächlich mehr zu verlieren? Hatte sie vielleicht nicht nur die Kurzsichtigkeit, sondern auch die Angst ihres Vaters geerbt, der zeit seines Lebens fürchten musste, wegen eines geringfügigen Vergehens von der einen Gehaltsstufe nicht pünktlich in die nächste aufzusteigen, im schlimmsten Falle, zum Beispiel wegen einer Revolution, die Anstellung sogar ganz zu verlieren? Waren die Hände von Natur aus ehrlicher als der Kopf? Wie gern hätte sie als junges Mädchen mit ihren Händen arbeiten, mit ihren Händen etwas herstellen wollen, was vorher nicht auf der Welt war – aber seit im Lyzeum eine Handarbeitslehrerin das von ihr angefertigte Puppenkleid vor der ganzen Klasse als Beispiel für, wie sie es nannte, schlunziges und schleißiges Arbeiten in die Höhe gehoben und präsentiert hatte, seit diesem Schultag hatte sie den Glauben an ihrer eigenen Hände Arbeit verloren. Wenn es eine Gnade der Geburt gab, gab es wahrscheinlich auch eine Ungnade. Schlunzig , und schleißig . Desto leidenschaftlicher hatte sie später die Sache der Arbeiter zu ihrer eigenen Sache gemacht.
    1909 übersiedelte meine Familie nach Wien. Aufgrund der anhaltenden Not betätigte ich mich mit vierzehn Jahren das erste Mal politisch, und zwar bei der Anführung einer Antikriegsdemonstration 1916. Damals war ich jedoch noch nicht marxistisch geschult, mein Widerstand entsprang lediglich einer spontanen pazifistischen Haltung.
    In ihrem ersten Lebenslauf, anlässlich ihrer Bitte, in die Sowjetunion einreisen zu dürfen, hatte sie an dieser Stelle noch geschrieben: …, aber mein Widerstand entsprang einem leidenschaftlichen Hass auf den Krieg. War die Geburtsstunde der Sowjetunion 1917 nicht auch identisch mit dem Entschluss der Bolschewiki, unter großen Opfern als einziges Volk auf der Welt selbstbestimmt die Last des unmenschlichen Krieges abzuwerfen?
    Wäre die Weltrevolution damals geglückt, hätte die Vereinigung der Proletarier aller Länder nicht nur der Beginn einer neuen Welt, sondern auch der Beginn eines ewigen Friedens sein sollen. Was für einen Grund hatten denn die Menschen, sich gegenseitig totzuschlagen? Welchen Grund die Österreicher, die Italiener verbluten zu lassen, und welchen Grund die Deutschen, die Franzosen aufzuschlitzen? Keinen.
    Frieden hatte es dann zwar 1918 gegeben, aber die europäischen Grenzen waren nicht aufgehoben, sondern nur verschoben worden, die Grenze hingegen zwischen jenen, die arbeiteten, und denen, die von den Gewinnen der Arbeit lebten, war jenseits der Sowjetunion überall unverrückt geblieben. Seit dem Beginn dieses erbärmlichen Friedens, seit nun schon beinahe zwanzig Jahren, stand die junge Sowjetmacht mutterseelenallein gegen die Front aller europäischen Reaktionäre, in einem neuen Krieg würde sie nicht ein Feind unter vielen sein, sondern der einzige Feind. Und dieser Krieg würde ganz sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen. Einen kritischen Blick warf sie von heute aus auf das junge, friedliebende Mädchen, das sie damals war. Damals hatte sie schon verstanden, dass es einen Unterschied gab zwischen dem Blut, das in einer Revolution floss, und dem Blut, das in einem Krieg vergossen wurde. Inzwischen wusste sie, dass auch Krieg nicht immer gleich Krieg war.
    Nach Kriegsende und dem Tod meines Vaters begann ich, politisch zunächst weiterhin vollkommen isoliert, mit dem Verfassen antimilitaristischer Schriften, die ich, damals allerdings noch ohne Erfolg, bei der Arbeiterzeitung einreichte, sowie mit der Arbeit an meinem ersten Roman »Sisyphos«.
    Nicht nur politisch, sondern überhaupt war sie damals vollkommen isoliert. Einsam. Aber das schreibt sie nicht. Gut ist heute, woran sie damals fast zugrunde gegangen wäre, denn erst kürzlich hat sie

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