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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sie nur zum Eingipsen des Beines ins Allgemeine Krankenhaus Wien eingeliefert worden, statt wenige Tage später ebendort prinzipiell gesund, aber eines freigewählten, gewaltsamen Todes gestorben, in einer kühlen Abstellkammer zu liegen; oder wäre das eisige Wetter, das von Schweden herüberkam, von der warmen Golfströmung zwei Tage eher abgelöst worden, dann wäre der Weg der Großmutter in den Wienerwald erst am Mittwoch nötig gewesen, oder es wäre die Pfütze nicht gefroren gewesen, und dann hätte die junge Frau an der Stelle, wo die Babenberger Straße endete, sich sicher dafür entschieden, am Kunsthistorischen Museum Wien vorüberzugehen, das zwar an diesem Sonntagabend geschlossen war, in dem sie aber einmal das Bild einer Familie gesehen hatte, die nur aus Vater, Großmutter und Kind bestand, dann hätte sie in jenem Moment, statt ans Erschießen, an die Zitrone gedacht, die der Vater dem Kind hinhielt, an das gelbe Leuchten der Frucht auf dem dunklen Gemälde, das jetzt, während der Schließzeit des Museums, unangesehen an einer Wand hing. Wer entscheidet, mit welchen Gedanken die Zeit gefüllt wird? Erst eine halbe oder sogar eine ganze Stunde später, wenn ihr bewusst geworden wäre, dass sie doch keinen anderen Platz zum Übernachten hatte als die elterliche Wohnung, wäre sie umgekehrt, wäre auch den Ring entlanggegangen, nun aber als Heimweg, denn für ein Taxi hätte ihr Geld nicht gereicht, und dieser Heimweg hätte sie zwar auch an der Oper vorübergeführt, aber der junge Mann wäre da schon längst nicht mehr auf dem Opernring anzutreffen gewesen, sondern hätte bereits für den Preis von 2 Pfund Butter, 50 Deka Kalbfleisch und 10 Kerzen in den Armen irgendeiner käuflichen Dame gelegen, sie ihrerseits wäre unbehelligt nach Hause gelangt, hätte die Hausbesorgerin zwar herausklingeln und die Mutter hernach bitten müssen, den Sperrsechser für sie zu entrichten, und die Mutter hätte ihr deswegen Vorhaltungen gemacht, sie aber wäre durch diese Vorhaltungen nur in dem Beschluss bestärkt worden, so bald wie möglich ihr eigenes Geld zu verdienen, um endlich aus der elterlichen Wohnung ausziehen und sich ein eigenes Zimmer leisten zu können. Wahrscheinlich kam es überhaupt nicht auf den Moment an, der gerade zurücklag, sondern immer auf alles. Eine ganze Welt aus Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.
    Den Beschluss, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, hätte sie an diesem Abend in jedem Falle gefasst, sei es, dass sie mit gebrochenem Bein im Wartesaal des Allgemeinen Krankenhauses gesessen hätte, sei es im Wienerwald, während sie der Großmutter den Rucksack trug, sei es auf dem Sofa der Großmutter, frierend unter einer dünnen Decke, nachdem diese ihr angeboten hätte, die Nacht bei ihr zu verbringen. Kann man nicht hinauf, muss man hinunter – aber kann man nicht hinüber, muss man doch hinüber. Am wahrscheinlichsten aber läge sie zu Hause in ihrem Bett, und im anderen Bett schliefe ihre kleine Schwester, die schon einen Meter siebzig groß war, und wenn sie sicher gewesen wäre, dass die Kleine zwar unruhig, aber dennoch fest schlief, wäre sie noch einmal aufgestanden, um ihr Tagebuch aus dem Versteck hinter dem Schrank hervorzuziehen, und hätte mit einem kleinen Bleistift, im Dunkeln, wie eine Blinde, darin einen Eintrag über alles Vorgefallene gemacht. So wie sie als Vierzehnjährige inmitten des Hungers beschlossen hatte, sich vom Hunger nicht länger erpressen zu lassen, hätte sie jetzt inmitten ihrer unglücklichen Liebe beschlossen, sich nicht länger von ihrer unglücklichen Liebe erpressen zu lassen. Hätte sie die einzige Stelle in Wien und den einzigen Zeitpunkt an diesem Abend, an dem sich ihre Lebensmüdigkeit in einen Tod verwandeln konnte, verfehlt, wäre ihr jetzt, noch während des Tagebuchschreibens, klar geworden, dass sie im Grunde genommen mit nichts als mit dem Schreiben Geld verdienen wollte, sie hätte angefangen zu überlegen, wie und worüber sie schreiben könnte, und so hätte sie zum ersten Mal in dieser ganzen elenden Woche an etwas anderes gedacht als an den Mann, den sie liebte, an ihre Scham und ihr Unglück.
    Am nächsten Morgen hätte sie ihre eigene Eintragung im Tagebuch nicht mehr entziffern können, denn in der Dunkelheit der letzten Nacht hatte sie in ein und derselben Zeile mehrere halbe

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