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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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und ganze Buchstaben übereinandergeschrieben. Der schäbige, junge Mann wäre unverletzt und am Leben geblieben, wenige Jahre später, mit Mitte zwanzig, hätte er schon eine Glatze gehabt; die Großmutter wäre die Kellertreppe nicht hinuntergefallen, bei ihr hätte sie sich über ein Jahrzehnt später, als sie von Verhaftung bedroht war, einige Tage lang versteckt; der Vater aber hätte unter diesen Umständen mit seinem eigenen Sterben nicht mehr gewartet, sondern wäre nur fünf Wochen nach dieser Nacht, am 2. März desselben Jahres, an Herzmuskelschwäche gestorben. An seinem Grab hätte die Große ein zweites Mal an die Zitrone denken müssen, die der gotische Vater in all der Dunkelheit seinem Kind, mochte es ein Mädchen oder ein Junge sein, hinhielt. Sie hätte die Exzerpte des Vaters aus den »Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark« an sich genommen und daraus unter Tränen ihren ersten Artikel gemacht: Soll die Erde sich doch noch einmal auftun und die Kriegsgewinnler verschlingen! Denn im Bett war zwar ihr Vater gestorben, an Herzmuskelschwäche, wie die Ärzte sagten, im Grunde genommen aber, davon war sie überzeugt, am Krieg.
    Der Mutter wäre das Märzgehalt ihres Mannes noch ausgezahlt worden, das hätte zu diesem Zeitpunkt gerade für die Einkäufe der laufenden Woche gereicht.

BUCH III

1
    E ine Frau sitzt an einem Schreibtisch und schreibt ihren Lebenslauf. Der Schreibtisch steht in Moskau. Es ist das dritte Mal in ihrem Leben, dass sie einen Lebenslauf schreiben muss, und es kann sein, dass dieser geschriebene Lebenslauf den Lauf ihres wirklichen Lebens beendet, dass dieses Schriftstück, wenn man so will, sich in eine Waffe verwandelt, die sie sich selbst schreibt. Es kann auch sein, dass das Schriftstück aufbewahrt wird, und dass sie von dem Moment an, in dem sie es abgegeben hat, dagegen anleben muss, oder sich dessen würdig erweisen, oder die dunkelsten Vermutungen, die sich daraus ergeben, bestätigen. Im letzteren Falle wären diese Buchstaben ebenfalls, nur mit kleinerer oder größerer Verspätung, so etwas wie eine verschleppte Krankheit, an der sie irgendwann doch zugrundegehen muss. Hat ihr Mann nicht immer gesagt, auf dem Theater hängt niemals ein Gewehr an der Wand, mit dem nicht auch irgendwann einer schießt? Sie denkt an die »Wildente« von Ibsen, und wie sie geweint hat, als der Schuss endlich fiel. Vielleicht aber gelingt es ihr, und deshalb sitzt sie ja überhaupt nur da, darauf hofft sie, und deshalb nur sucht sie so lange nach den richtigen Worten, vielleicht gelingt es ihr, sich mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, und den Lauf ihres Lebens, durch ein paar Buchstaben mehr oder weniger, zu verlängern oder wenigstens zu erleichtern, auf nichts anderes kann sie hoffen, als darauf, sich durchs Schreiben ins Leben zurückzuschreiben. Aber was sind die richtigen Worte? Käme sie mit einer Wahrheit weiter als mit einer Lüge? Und welche der vielen möglichen Wahrheiten oder Lügen soll sie dann nehmen? Wenn sie doch nicht weiß, wer lesen wird, was sie schreibt.
    Eines nur nimmt sie nicht an, nämlich dass dieses Schriftstück nichts weiter als ein beschriebenes Blatt Papier sein wird, abgeheftet, vergessen. Das ist in einem Land, in dem jedes Kind und jede Aufwaschfrau und jeder Soldat Gedichte von Lermontow und Puschkin auswendig hersagen kann, nicht sehr wahrscheinlich.
    2
    I ch wurde als Tochter eines Beamten 1902 in Brody geboren, hatte also einen bürgerlichen Hintergrund. Worin bestand eigentlich ihr bürgerlicher Hintergrund? Darin vielleicht, dass ihre Großmutter vor über zwanzig Jahren bei der Flucht aus Galizien nach Wien eine Gesamtausgabe von Goethe mitgeschleppt hat? Vom Gehalt des Vaters konnten die Eltern sich nicht einmal in den ersten Wiener Jahren ein Dienstmädchen leisten. Sie bekam niemals Klavierstunden, und ihre Schwester spielte nicht Geige. Natürlich weiß sie, dass der bürgerliche Hintergrund darin bestand, dass ihr Vater nicht Fabrikarbeiter gewesen war, sondern Beamter im Meteorologischen Institut. Ich verdiene mein Geld mit dem Hintern, hatte er manchmal gesagt, und damit sein Sitzfleisch gemeint. Verhungert waren sie trotzdem beinahe. Dennoch blieb die bürgerliche Herkunft sowohl in ihrem ersten Lebenslauf, in dem sie sich um die Einreise in die Sowjetunion beworben hatte, als auch im zweiten, mit dem sie sich vergeblich um Aufnahme in die Kommunistische Partei der Sowjetunion bemüht hatte, und wahrscheinlich auch jetzt,

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