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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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erfahren, dass der Mann, dessentwegen sie damals am liebsten hätte sterben wollen, schon seit längerer Zeit einer trotzkistischen Gruppierung angehört. W. hatte er damals geheißen, als sie ihn kannte, als Genosse E. war sie ihm das erste Mal wieder auf einer Versammlung begegnet, später war er, wie so viele von ihnen, und auch sie selbst, durch verschiedene Identitäten gewandert, war Za. geworden, dessen Artikel sie manchmal las, nannte sich später in der Illegalität P.,das erzählte ihr eine Genossin, aber welchen Namen er zuletzt, während seiner Arbeit in Leningrad, trug, hatte sie nicht gewusst. Wenn sie in den letzten Monaten hin und wieder vom Trotzkisten, Sinowjewisten, Bucharinisten Lü. sprechen hörte, wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, dass dieser derselbe Mann war, den sie vor langer Zeit einmal so sehr geliebt hatte. Erst vor wenigen Wochen, als sie in der Zeitung zufällig ein Foto des Angeklagten Lü. sah, hatte sie ihn darauf wiedererkannt.
    Ich verlange.
    Im Spanischen Bürgerkrieg.
    So geht es nicht.
    War ich, nicht auf einem Kongress.
    Ich muss mich verwehren.
    Im Schützengraben.
    Hätte auch andere Wege.
    Als F. mich beschuldigen wollte.
    Seitdem nicht mehr, ich verlange.
    Zeitzündung, ihr müsst doch.
    Was soll diese Herumrederei.
    Lü. sein bester Freund.
    Ich niemals!
    Soll diese Herumrederei.
    Br. nur ein.
    F. sät Verdacht.
    Kann so nicht arbeiten.
    Nicht im Hinterland!
    Ein schreibender Funktionär, aber kein Autor.
    Sauberer Weg.
    Ich frage, warum bringt Br. kein Argument.
    Und ich frage, warum löst F. mit seinem zynischen.
    Auch einmal in Betracht ziehen.
    Warum ist F. so zutiefst pessimistisch.
    Habt ihr, wie doppelsinnig?
    Keine aufbauende, keine schöpferische.
    Br.’s Sektierertum einmal genau unter die Lupe.
    Sondern im Gegenteil schädlich.
    Seht doch die Einleitung an, in der russischen Fassung die Sätze geändert.
    Das ist nicht wahr.
    Die Einleitung ist.
    Das ist nicht wahr!
    Nicht vorwärtsweisend.
    Unterstellung und Schurkerei.
    Die Einleitung ist nicht dieselbe.
    Willst du etwa behaupten?
    Ich unterstelle nichts, möchte bloß, nicht dieselbe, wie in der russischen Fassung.
    Willst du etwa behaupten, dass?
    Dazu nichts mehr sagen.
    Erkläre Rücktritt.
    Auch ich lege mein Amt.
    Lösen wir doch am besten gleich.
    Vielleicht sollten wir.
    Ich habe dazu wirklich nichts mehr.
    Könnten doch in Gegenwart.
    Eine Rüge könnt ihr.
    Aber nicht in Gegenwart.
    Warum?
    Eines Parteivertreters.
    Dann ohne mich.
    Meinen Lebensunterhalt verdiente ich in dieser Zeit als Verkäuferin in einer Papierhandlung. Noch in keinem Lebenslauf hat sie geschrieben, dass sie im Hinterzimmer des kleinen Geschäfts oft während der Pause im Papierregal Mittagsschlaf hielt. Der Vetter, in dessen Laden sie arbeitete, hatte es ihr erlaubt. Die großen Papierbögen waren frischer als jedes Leintuch, und als stiege sie wirklich in ein Bett, musste sie immer die Schuhe ausziehen, bevor sie sich in eines der Fächer einsortierte. Müde war sie gewesen in diesen ersten Monaten, nachdem sie nicht mehr bei Mutter und Schwester wohnte, immer müde, denn in den Nächten schrieb sie an ihrem Roman. So oft hatte sie sich ihren Vater wieder lebendig gewünscht, und vielleicht gelang es ihr, vielleicht machten ihre Worte ihn wieder lebendig, wenn es nur die richtigen Worte waren.
    Einige Male hatte ein stiller junger Mann bei ihr im Laden rotes Papier gekauft und sie darum gebeten, es ihm gleich dort mit der großen Schneidemaschine auf Flugblattgröße zurechtzuschneiden. Stumm hatte er ihr dabei zugesehen, wie sie die Maschine einrichtete, dann den großen Hebel bediente und so einen ganzen Stapel Papier mit einemmal durchschnitt. Durch den Genossen G. bekam ich den ersten Kontakt zur KPÖ . Irgendwann hatte sie ein verwehtes Flugblatt, inzwischen bedruckt, am Straßenrand liegen sehen, und an der Farbe wiedererkannt. Sie hatte das Blatt aufgehoben und zu lesen begonnen.
    Den ganzen Sommer über war der Genosse G. nicht in den Laden gekommen, aber als er im September wieder erschien, sah er sie statt mit zwei nur noch mit anderthalb offenen Augen an. Wie die riesige, müde Echse sah er jetzt aus, die als eine der wenigen Neuanschaffungen nach dem Krieg in der Schönbrunner Menagerie zu besichtigen war.
    Während er neben ihr an der Schneidemaschine stand, hatte sie ihn beim Einrichten des Papierstapels gefragt:
    Ein Unfall?
    Jemand habe ihn zu Boden geschlagen.
    So?
    Ein Soldat.
    Ein

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