Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
müsse, der solle auch selbst verdauen, solle auch selbst wachsen dürfen – und scheißen!, hatte er gerufen und dabei lachend seine eigenen Zähne gebleckt, Fleisch zu Fleisch, hatte er gerufen und seine Haarsträhne nach hinten geschleudert.
Die schöne Z. hatte gelächelt, und die Genossin U. hatte, wieder an der Grenze zur Unhörbarkeit gemeint, der Genosse H. schieße vielleicht über das Ziel hinaus, aber habe im Prinzip wohl nicht unrecht, die massenhafte, entfremdete Arbeit könne nur ein Vorstadium sein zu einer Welt, in der diese massenhafte Arbeit auch den Massen zugute komme.
Es wäre ja auch gelacht, hatte G. gesagt, und dabei hatte sein Auge wieder getränt, so dass man nicht wusste, ob er Tränen lachte, oder vielleicht weinte, oder keins von beiden, es wäre ja auch gelacht, hatte er gesagt: Die Natur, die den Menschen umgab, sollte gezähmt werden können, der Eigennutz ihn aber zurückwerfen ins Tiersein?
Nein, die Jugend war nicht länger dazu da, die Jugend zu vergeuden, nicht dazu da, einfach nur aufs Vergehen der Jahre zu warten, um irgendwann ins Alter hineinzuschlüpfen als in einen von andern längst abgetragenen Fetzen. War nicht dazu da, sich verschleißen zu lassen für die Fehler der Alten, sondern dazu, sich zu verschwenden: für eine neue Welt, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte.
Sie waren sehr lustig, sie sangen und tranken Kaffee.
Als ich da war, ist nur getanzt worden. Ich kann nicht tanzen, es waren zwei langweilige Stunden für mich.
Wir sind gekommen und haben Karten gespielt. Irgendwelche Gespräche haben wir nicht geführt.
Man war schon beim Kaffee angelangt. Es wurde überhaupt nichts Politisches gesprochen.
V. war manchmal in meiner Wohnung, was ich darauf zurückführte, dass er gern umsonst rauchte und trank. Ich konnte kein politisches Motiv dahinter sehen.
So ist V. auch einige Male in meinem Zimmer gewesen, die Gespräche drehten sich um altvergangene Zeiten. Anfang November 1935 habe ich ihn noch ein einziges Mal flüchtig auf der Straße gesehen.
Ich habe ihn seit dem Herbst 1931 nie wieder gesehen. Von irgendwelcher näheren Verbindung persönlicher oder politischer Art kann nicht die Rede sein.
Einmal ist er mir nachgekommen, als ich ein Glas Bier trank. Ich habe einen sehr schlechten Eindruck von ihm gehabt und ihn nie wiedergesehen.
Er kann gar nichts vertragen. Er hat beim ersten Glas meist schon genug.
Er tut manchmal nur so!
Ja, ja, das weiß ich.
Hat Genosse Br. einmal bei V. die Genossin T. angetroffen?
Ich kann mich nicht erinnern, es könnte möglich sein. Das will ich lieber zugeben als abstreiten.
Warum könnte das möglich sein?
Soweit ich gehört habe, waren sie miteinander bekannt.
S., L., M., O. waren auch einmal da. Eine schwedische Journalistin, dann K., Sch., einmal H. mit Frau, außerdem Genosse R., Ö. mit Frau, ich glaube, das sind alle.
Ich war auch einmal da.
Richtig, Fr. und auch die C.
Es war alles ziemlich angetrunken.
Ich halte es für meine Pflicht, bei aller Fröhlichkeit diese Abende energisch abzuschaffen. Es ist unmöglich, bei dem Genuss von Alkohol zu kontrollieren, ob eine politische Bemerkung fällt, die nicht mehr kontrolliert werden kann.
Ich war in seiner Wohnung einmal am Sylvesterabend, wo das ganze Haus voll war, und auch viele Genossen anwesend waren.
War ich da?
Nein.
War ich da?
Nein.
Ich?
Nein.
Ich war einmal, weil er mich zehnmal eingeladen hatte, in seiner Wohnung.
Ich habe zu V., weil ich oft verreist war, überhaupt keine Beziehung gehabt.
Dass V. bis zum Ende von keinem von uns als Doppelzüngler entlarvt wurde, ist ein Faktum, das uns stutzig machen muss. Ich ziehe daraus die Lehre, dass vollständig richtiges Verhalten nicht vorhanden ist.
Eines Abends hatte sie H. nach einer Sitzung von ihrem »Sisyphos« erzählt, und er ihr von seinen Theaterstücken. Wenige Tage später saß sie mit ihm in einer Runde sogenannter Revolutionärer Schriftsteller , und plötzlich fügte sich alles, was so lange einzeln gewesen war, und einzeln keinen Sinn ergeben hatte. Weltanschauung hieß doch genau das: sehen zu lernen. Konnte man, wenn man nur die richtigen Worte fand, die Welt verändern? Oder konnte man sogar nur, wenn man die richtigen Worte fand, die Welt verändern?
Die Frage, ob die Genossin O. in ihrem Text über den Mord an Rosa Luxemburg einen Freikorps-Mann mit ebenso großer Sorgfalt schildern dürfe wie dessen Opfer, war die Frage danach, ob die Autorin schon wissen
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