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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Soldat?
    Ja.
    Warum?
    Der Putsch.
    Sie hatte darüber gelesen. In der Hörligasse waren sogar einige Kommunisten ums Leben gekommen, aber hier, im Alserbezirk, war das Leben genauso gewesen wie immer.
    Und Ihr Auge?
    Es rinnt.
    Das tut mir leid.
    Während sie das Rad, mit dem der Papierstapel zusammengepresst wurde, herunterkubelte, hatte sie gedacht, dass man nun nie mehr ganz genau wüsste, ob der stille Mann vielleicht Grund hatte zu weinen, oder ob es nur das Auge war, das ohne sein Zutun Tränen vergoss.
    Vielleicht mochte sie einmal kommen?
    Während sie den Papierstapel mit einemmal durchschnitt, wischte er sich mit dem Handrücken über die feuchte Wange.
    Seine kommunistische Zelle treffe sich immer am Mittwoch.
    So.
    Man konnte also seine Gesundheit und womöglich sogar sein Leben auch für etwas anderes opfern als für die Liebe, konnte sich so lange aufbewahren, bis es Zeit war, sein Leben und seinen Körper der Zeit in den Rachen zu werfen für eine gute Sache.
    Aber in Ungarn ist es schon wieder vorbei, sagte sie, und meinte damit die Räterepublik.
    Wir lernen, sagte er, und die Welt hat noch keine Ahnung davon, was da wächst, aber sie wird sich wundern.
    Man würde auch nie mehr ganz genau wissen, ob er Tränen lachte, oder einfach nur lachte, dachte sie, und begann, die frischgeschnittenen Stapel Papier in Papier einzuschlagen.
    Der Genosse, der ich ist, und der Genosse B. gehen die Twerskaja entlang, als der Genosse, der ich ist, ihn sieht. Er geht auf der anderen Straßenseite. Er hebt die Hand, um den Genossen, der ich ist, zu grüßen. Der Genosse, der ich ist, hebt die Hand. Wollen wir ihn nicht zu uns herüberwinken? Um Gottes willen, wenn das jemand sieht! Wenn das jemand sieht, sieht er, dass der Gruß nur dem Genossen, der ich ist, gilt. Ich winke, er kommt heran, B. wendet sich ab. Wir gehen mehrmals am Strastnoj auf und ab. Das Gespräch ist belanglos. Es dreht sich um eine Beleuchtung, ein grünliches Licht. Der Ton ist von seiner Seite aus herzlich. Wir sind ungefähr ¼ Stunde zusammen. Dann verabschiedet er sich. Ist es nun als Fehler zu werten, dass der Genosse, der ich ist, und der Genosse B. mit ihm gesprochen haben? Jedenfalls, wir haben mit ihm gesprochen.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben also war sie dann an einem Mittwoch Menschen begegnet, die über die Schlechtigkeit der allgemeinen Verhältnisse nicht nur raunzten, sondern mit klarem Verstand untersuchten, warum diese Maschine, die Fortschritt hieß, das Wohl der Menschheit untergrub, statt es zu fördern.
    Wozu sonst sollten sie jung sein in so einer Zeit, in der auch der Fortschritt noch jung war, hatte einer gesagt, der von den andern Genosse H. genannt wurde, und hatte durch eine ruckartige Bewegung des Kopfes eine Haarsträhne aus der Stirn geschleudert, eine Bewegung, die ihr später so vertraut werden sollte.
    Es genügt nicht, achtzehn zu sein.
    Nachdem die Menschheit sich durch die Erfindungen der Moderne endlich die Mittel geschaffen habe, sich aus den Zwängen der bloßen Lebenserhaltung zu erheben, sei es nun an ihnen, dafür zu sorgen, dass die Menschheit sich dieser Mittel auch wirklich bediene, hatte ein dicklicher Genosse, A. genannt, gerufen und war aufgestanden, um mit einer gewaltigen Bewegung seiner Arme das Erheben der Menschheit zu beschreiben. Und eben nicht, um für ein paar Einzelne unermessliche Reichtümer anzuhäufen, nicht, um durch die Unterwerfung der Kolonien neue Märkte und billigere Produktionsstätten zu erobern, nicht, um im nächsten Krieg die Bodenschätze nur neu zu verteilen. Nein! Wir stehen an einem Anfang, hatte er ausgerufen, nicht irgendwo mittendrinnen, sondern ganz vorn, und wieder hatte er mit einer mächtigen Armbewegung Luft geschöpft und diese Luft über die Mitte des Tisches geschoben, so dass die Rauchwolke, die dort stand, verwirbelt wurde und kreisend in alle Richtungen auseinandertrieb. Dann hatte er sich wieder gesetzt, um sich eine neue Zigarette zu drehen.
    Es genügt nicht, achtzehn zu sein.
    Die Genossin U., die leise sprach, um sich Gehör zu verschaffen, hatte beinahe flüsternd gesagt, dass die Teilung der erwirtschafteten Gewinne dann aber durch das Gesetz vorgeschrieben sein müsse, denn sobald der Einzelne sich bereichern könne, tue er es.
    Genau, hatte H. gesagt, es sei ohnehin an der Zeit, dem Privateigentum endlich die Haut abzuziehen, Zeit für das Einswerden der Menschheit mit sich selbst, aber im ganz großen Maßstab! Wer die Zähne habe und zubeißen

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