Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
dürfe, was sie erzähle, oder ob es genau im Gegenteil ihre Aufgabe sei, selbst zu suchen. War auch die Frage nach der Unumkehrbarkeit des Guten und des Bösen, also im Grunde danach, ob Erziehung möglich sei, ob Hoffnung Grenzen kenne oder keine. Ob der oder jener Klassiker schreibend an seiner Zeit beteiligt war oder eher beobachtend außerhalb stand, war genauso eine Frage auf Leben und Tod, wie die Frage danach, wem die Fabriken gehörten. Ob ein revolutionäres Gedicht in Sonettform Kapitulation vor dem Feind sei, verkappte Wendung nach rückwärts, wolle der Dichter J. – Katzenhaare auf dem Pullover, braune Zähne vom Rauchen –, wolle er die Revolution vielleicht einsperren in vierzehn Zeilen? Alles wäre anders gelaufen, wenn die sozialdemokratischen Schweine im Juni unsere Führer nicht eingesperrt hätten! Zum ersten Mal hatte sie in dieser Runde das Gefühl gehabt, dass die Literatur selbst etwas Wirkliches sei, ebenso wirklich wie eine Tüte Mehl, ein Paar Schuhe oder eine Volksmenge, die in Aufruhr gerät. Hier waren die Worte selbst zum Anfassen gewesen, es gab keinen Übergang von der Literatur zu dem, was man Wirklichkeit nannte, sondern die Sätze selbst waren eine Wirklichkeit, van Gogh hatte sich sein Ohr abgeschnitten, warum sollte es nicht ebenso wehtun, wenn in einem Theaterstück eine Figur der anderen das Wort abschnitt? Waren die Kommunisten im Grunde zum Schreiben auf die Welt gekommen? Kam es auf jedes Wort an?
Ich war leider sehr oft nicht anwesend, weil ich zu den Leuten gehörte, die nicht eingeladen wurden. Ich habe manchmal eine sehr heftige Art, eine Art, die Genosse F. mir so übelgenommen hat, dass er mich einen Wurm genannt hat. Wenn ich mich auf dieses Niveau begeben würde, könnte ich sagen, er sei ein hoffnungsloser Alkoholiker. Ich sage das nicht, weil ich mich nicht auf dieses Niveau herabbegeben will. Natürlich begehe ich Fehler. Ich möchte restlos Selbstkritik üben. Ich werde wahnsinnig gehasst von dem Genossen M. und der Genossin C., unter deren Schwatzhaftigkeit ich übrigens sehr leide. Ich muss jetzt beweisen, dass ich sauber bin, und nicht M. muss beweisen, dass er recht hat. Ich leide, wenn zum Beispiel Genosse M. bei der Aufzählung der Mitarbeiter meinen Namen vergisst. Welche Nichtachtung kommt da zum Ausdruck. Wobei ich natürlich nicht sagen will, dass er diese Politik betrieben hat als ein Agent des Faschismus. Ich wiederhole, dass ich nichts beweisen kann. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit der Genossin C. Ich fing an, Fehler zu begehen. Ich fing an, persönliche Umgangsformen plötzlich übelzunehmen, was ich früher nicht gemacht hätte. Hier Tratsch und da Tratsch, und plötzlich war der Fall da. Wenn ich mich recht erinnere, war C. dauernd schwanger mit Fehlgeburten. Ich möchte sagen, dass das selbstverständlich keine Enthüllungen sind, die ich hier mache. Ich kämpfe darum, dass man mir endlich klipp und klar sagt, was los ist. Was habt ihr für Beschuldigungen gegen mich? Ich kämpfe um meine Ehre. Ich fordere von dem Genossen M., dass er aufsteht und erklärt, warum ich nicht zur Mitarbeit aufgefordert wurde. Genosse M. soll aufstehen, Genossin C. soll kommen. Ich kenne meine eigenen Fehler sehr genau. Aber man soll nicht mit der Ausrede kommen, ich hätte Artikel nicht rechtzeitig abgegeben. Den V. lernte ich hier in Moskau kennen und roch, dass er stank, ein Hund, der sich überall hineindrängt, der einem nicht in die Augen sehen konnte. Außerdem log er. Ich habe sofort eine Meldung an die Kaderabteilung gemacht. Jeder Genosse hat Fehler, wenn jemand kommt und sagt, er habe keine Fehler, so hat er keine Selbstkritik gemacht. Nebenbei: V. hat mich stets mit großer Verachtung und Herablassung betrachtet, was ich nicht vertragen kann, besonders, wenn es nicht begründet ist. Ich finde, so einen Burschen muss man auf dem Boden der Sowjetunion eliminieren können. Was ist eigentlich los? Wenn ich jetzt klar von Genosse zu Genosse spreche, so kann es passieren, dass ich eine Bemerkung mache, die mir den Hals bricht. Wollen wir uns nicht lieber gegenseitig helfen? Ich kam nach Moskau, und zu mir kam ein langer Mensch mit Locken. Ein Mensch, der zu jeder Arbeit zu dämlich ist, aber für jedes konterrevolutionäre Element eine willkommene Beute. Er brachte mir ein paar Gedichte. Sie waren so spottschlecht, dass mir übel wurde. Ich verlange nicht, dass jemand mir ein Ehrenzeugnis gibt. Ich verlange, dass, wenn man mich politisch isoliert, man
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