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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Genossin U., inzwischen verdiente Funktionärin der Kommunistischen Internationale, und der Vordenker der kommunistischen Bewegung, Genosse G., bürgten für mich, als ich 1920 in die KPÖ eintrat, hatte sie damals geschrieben.
    Im zweiten Lebenslauf, als sie sich um die Aufnahme in die KPdSU bewarb, hatte sie einfach geschrieben: Der Vordenker der kommunistischen Bewegung, Genosse G., und die Genossin U. bürgten für mich.
    Die verdiente Genossin der Kommunistischen Internationale hatte damals schon seit einiger Zeit an keiner Versammlung der Komintern mehr teilgenommen und keine Funktion mehr bekleidet; es war das Gerücht umgegangen, sie habe mit den Kirow-Mördern paktiert, aber niemand wusste Genaues.
    Nun, in diesem dritten Lebenslauf, ergänzt sie: Damals wurde ich von der Volksfeindin U. beeinflusst und nahm, obwohl ich bei den damaligen Auseinandersetzungen nicht aktiv hervortrat, in den Diskussionen meiner Parteigruppe über den Sinn der Junirevolte des Jahres 1919 ebenfalls eine zustimmende Position ein, womit ich unwillentlich zur Fraktionsbildung und damit zur Schädigung der kommunistischen Partei Österreichs beitrug.
    Durch die Bewegungen, die in der Gegenwart stattfanden, bewegte sich also auch die Vergangenheit. Aber konnte ein Blick auf die Dinge tatsächlich die Dinge selbst verwandeln?
    Als ihr Vater kurz nach dem Ende des Krieges starb, war sie überzeugt, dass er am Krieg gestorben war, wenn auch in der Etappe, nämlich an der tiefen Erschöpfung, der er nach jahrelangem Bemühen, unter katastrophalen Umständen eine Familie zu ernähren, anheimgefallen war.
    Die Mutter wiederum hatte ihr anlässlich ihres Auszugs aus der elterlichen Wohnung, im Frühling nach dem Tod des Vaters, im Treppenhaus nachgerufen, der Vater habe es schließlich auch nicht länger verkraftet, dass sie, seine große Tochter, auf dem besten Wege sei, eine zu werden, die sich herumtreibt.
    Die kleine Schwester ihrerseits fand durchaus nicht, dass die Ältere am Tod des Vaters schuld sei, fand aber ebensowenig, der Vater habe, wie die Große es nannte, privat kapituliert. Protest gegen die Neuzeit sei es gewesen, Auflehnung des Herzens gegen alles, was heutzutage nicht länger zumutbar war, also im Grunde genommen Stärke und Radikalität, was ihn ins Sterben trieb, und beides hast du von ihm geerbt, hatte sie zu ihrer großen Schwester gesagt.
    Die große Schwester aber hatte erwidert, sie könne leider nicht glauben, dass ein Protest in einem Rückzug bestehe.
    Wohl, hatte die Kleine gesagt, bestehe er wohl! Erst durch den Tod sei der Vater doch endlich wieder dorthin gelangt, wo er, im Grunde genommen, seit 1917 habe sein wollen – bei seinem seligen Kaiser, die jetzige Zeit habe er auf seine Art für bankrott erklärt.
    Aber darum schert sich diese jetzige Zeit leider nicht, hatte die Große gesagt.
    Der Tod könne doch auch eine Art von Streik sein!
    Ach, hatte die große Schwester gesagt, ich weiß nicht.
    Aber dann standen die beiden Schwestern schon vor dem Haustor, mit hinaufkommen wollte die Große nicht, um der Mutter nicht zu begegnen.
    Jede von ihnen, sie selbst, ihre Mutter und auch ihre Schwester, hatte damals den Tod des Vaters, der als Tatsache ihnen allen im gleichen Maße entgegentrat, also anders bezeichnet, jede von ihnen ihm eine andere Ursache und Bedeutung gegeben, so als sei nicht anders von ihm zu sprechen, als nur in der Form dieser oder jener Geschichte, als von einem abgestorbenen Ende, das auf die oder jene Weise verwachsen war mit dem Leben einer jeden von ihnen. Jede rief seinen Tod bei einem anderen Namen, und wahrscheinlich half das Benennen dabei, die Tatsache, die dem Namen zugrunde lag, wenigstens zu verdecken, wenn nicht zu vergessen, damit der klaffende Schlund nicht womöglich auch die noch Lebenden in die Unterwelt lockte.
    Die Ärzte aber hatten, wie es ihr Beruf von ihnen verlangte, in größter Sachlichkeit nichts weiter als die wissenschaftliche Begründung für den Tod des Vaters ins Sterbebuch eingetragen: Herzmuskelschwäche .
    Daran hatte sie bei ihrer ersten Lektüre des Manifests der Kommunistischen Partei denken müssen, als sie zu hoffen begann, dass es auch für die schweren Krankheiten, an denen die Menschheit im Ganzen litt, vielleicht einen Arzt gab.
    Während sie in die Gemeinschaftsküche hinübergeht, um sich aus dem Samowar Heißwasser für ihren Tee zu holen, kommt, weit entfernt von ihr, auf einem Stück Steppe, 45.61404 Grad nördlicher Breite, 70.75195 Grad

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