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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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östlicher Länge, Wind auf. Der Wind fährt durch die Grasbüschel, die dort wachsen, er hat ein paar Sandkörner mitgebracht, die bleiben zwischen den Grashalmen hängen, ein paar andere Sandkörner, die neben dem Grasbüschel liegen, trägt er mit sich fort. Seit Wochen schon hat es dort nicht mehr geregnet. Ein Käfer, der aus dem Nirgendwo kommt und ins Nirgendwo unterwegs ist, vertreibt sich die Zeit, indem er an einem der Grashalme hinaufkriecht, und, oben angekommen, wieder umkehrt und nun mit dem Kopf nach unten seinen Weg fortsetzt. Der Grashalm hatte sich, als der Käfer oben angelangt war, ein wenig unter dessen Gewicht gebeugt, kaum merklich, weil das Gewicht nicht sehr groß war, aber doch etwas. Jetzt, da der achtbeinige Besucher die Erde wieder erreicht hat und nun mit Mühe zwischen den anderen Halmen des Büschels seinen Weg weiter verfolgt, ist der Halm wieder aufrecht, zittert hin und wieder nur leicht in der ruhigen Luft, die man Windstille nennt.
    Die Juden wussten schon, denkt sie auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer, warum sie sich dafür entschieden, den Namen Gottes niemals zu nennen. Lenin hatte einmal geschrieben, ein Glas sei nicht nur unstreitig ein Glaszylinder, sondern auch ein Trinkgefäß, es sei ebenso ein schwerer Gegenstand, der als Wurfinstrument dienen könne, lasse sich jedoch auch als Briefbeschwerer verwenden oder als Behälter für einen gefangenen Schmetterling. Lenin hatte Hegel gelesen, und Hegel wiederum hatte gesagt, das Ganze sei das Wahre. Sonst hat sie immer mit ihrem Mann Tee getrunken, bis spät in die Nacht. Jetzt sitzt sie allein da. Ob es ein Fehler ist, dass Lenins »Philosophische Hefte« bei ihr im Regal stehen? Gehörte Lenin auch schon zu den Verfemten? War er vielleicht, als sie den Tee holen ging, noch ein Klassiker, und als sie mit der Tasse in der Hand zurückkam, schon ein Verbrecher? Er liegt drüben, am anderen Ufer der Newa, in seinem gläsernen Sarg, wenn er sich darin umdrehen würde, könnte jeder es sehen.
    Es war an einem Wochenende im Vorfrühling, vielleicht zu Ostern. Ein See bei Berlin.
    Es ist eine Schweinerei, man muss ihm das Handwerk legen, so ein Hallodri.
    Wir wollten mit dem Faltboot hinüberpaddeln.
    Der hat’s verdient.
    Ich weiß noch, dass das Wetter es nicht gut mit uns meinte.
    Als untalentiert entlarvt.
    Es schien, als hätte der Winter noch einmal Einzug gehalten.
    Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, auf welchen Umwegen er hierhergekommen ist, und was er für ein zweifelhaftes Schriftstellerdasein führt, und wir haben uns gesagt, ach was, sich mit Dreck befassen.
    In der letzten Nacht hatte es sogar geschneit, es fiel Graupelregen. Dünne Eisschollen trieben auf dem See, die aber schon bei der geringsten Berührung durch unsere Bootsspitze zerbrachen.
    Einzelne Genossen haben gemeint, er sei begabt.
    Am Abend las er uns zum Abschied seine neueste Erzählung vor.
    Begabt, das ist ein dehnbarer Begriff.
    Am nächsten Tag trennten wir uns.
    Wir können die Bezeichnung nicht aufrechterhalten, dass er ein begabter Mensch ist, wenn man ihn von den zuständigen Organisationen als Schundliteraten ausschließt.
    Eilig, beschwingt ging unser Freund davon. Eine Woche später reiste er ab nach Moskau.
    Ein einziger Mensch hat mir recht gegeben, flüsternd, und das war er. Lieber Genosse, habe ich gesagt, wenn Sie dieser Meinung sind, dann stehen Sie auf und sagen Sie das laut. Er antwortete, ich werde das auch tun, ist aber bald verschwunden.
    Verharrte nur noch einmal, um sich umzuwenden und uns zuzuwinken.
    Schändlich war, was er versucht hat.
    Immer wird mir sein Bild vor Augen stehen.
    Aufhetzen wollte er mich.
    Seine stämmige, etwas gedrungene Gestalt.
    Dass das Buch Dreck ist.
    Die kurzgeschorenen, nach oben strebenden Haare.
    Rechtzeitig in seinem Traum als Schriftsteller entlarvt.
    Die wachen Augen.
    Aus der Literatur verjagt.
    Die jetzt ganz voll freudiger Erwartung waren.
    Der Fall, dass eine Gruppe existieren konnte in Moskau, an deren Spitze ein unbedingter Trottel saß, nämlich dieser, ist jetzt bereinigt.
    3
    E in guter Freund ihres Mannes, der Theaterregisseur N., hatte ihr und ihrem Mann für die Übersiedlung in die Sowjetunion ein Empfehlungsschreiben an den Chef des Geheimdienstes, Jagoda, mitgegeben. Ihr Mann hatte es nicht abgeben wollen, sie hatte gesagt, warum denn nicht, er hatte gesagt, Vetternwirtschaft sei nun einmal kein Sozialismus, und seine Strähne aus dem Gesicht geschleudert, sie hatte gesagt, das

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