Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
mir einen politischen Grund dafür gibt. Es geht mir nicht allein so, dass, wenn ich in diesen Raum komme, ich das Gefühl nicht loswerden kann, dort sind ein paar, die verschweigen dem Dritten oder dem Vierten, dem Fünften oder dem Sechsten etwas. Die Zelle muss absolute Offenheit verlangen. Im Augenblick gibt es nur einen, der mich nicht bescheißt, und das bin ich selbst.
Zum ersten Mal hatte eines Abends auch sie einige Seiten aus ihrem »Sisyphos«-Manuskript vorgelesen. Sch., der Mann im gelben Jackett, wie sie ihn bis heute nennt, kritisierte, dass im Mittelpunkt des Buches eine kleinbürgerliche Hauptfigur stehe. Sei es nicht gerade dieses kleinbürgerliche Zögern gewesen, das den Juniaufstand zum Scheitern gebracht habe? Wolle sie sich etwa damit identifizieren? Wo bleibe der Fortschritt? Die in diesem Kreis einzige etwas ältere Genossin O. aber hatte ihm mit heiserer Stimme entgegnet, Fortschritt sei doch, wenn man die Wahrheit zur Kenntnis nähme, wie diese junge Autorin es in ihrem Text durchaus tue. Müsse man nicht, bevor man einen neuen Weg beschreite, bis in die Tiefe verstanden haben, was am alten Weg falsch war? Der bleiche, schnurrbärtige K. hatte mit einer gewissen Schärfe erwidert: Natürlich könne man viel Mühe darauf verwenden, immerfort alles zu verstehen, aber am Gordischen Knoten würden man heute noch zerren, wenn nicht jemand auf die Idee gekommen wäre, ihn zu zerschneiden. Der Dichter J. hatte, Katzenhaare auf dem Pullover, braune Zähne vom Rauchen, gesagt, ihm gefielen gerade die Langsamkeit des Erzählens und die vielen Wiederholungen in ihrem Text, denn darin spiegele sich der Stillstand, den der Held des Buches erleide. Genau, hatte H. gesagt, hier werde die Geschichte endlich einmal auch über die Sprache erzählt, und nicht nur über den Inhalt – und wenn sie, die revolutionären Autoren, wirklich einen neuen Adam erschaffen wollten, sei der einzige Ton, der ihnen zur Verfügung stehe, nun einmal die Sprache! Seine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, aber er merkte es nicht einmal. Die Genossin T. hatte daraufhin etwas lauter, als in diesem kleinen Kreis nötig gewesen wäre, gesagt, wenn man beim Lesen durch Kunstgriffe darauf gestoßen werde, über das Schreiben selbst nachzudenken, verliere der Text alle Kraft, die über ihn selbst hinausweisen könne, und das finde sie schade. Schade, hatte der bleiche, schnurrbärtige K. ergänzt, sei das nicht, aber vielleicht gefährlich, denn wer genieße, bleibe da, wo er sei, und bewege sich nicht mehr vorwärts. Also hatte sie am Abgrund geschrieben? Hatte gerade noch rechtzeitig die Freunde gefunden, die sie zurückreißen konnten? Also hatte ihr Text, den sie still für sich geschrieben hatte, einsam, sich jetzt in das Element verwandelt, das sie, durch Kritik und Fürsprache hindurch, mit diesen Freunden intimer verbinden würde, als es unter jungen Menschen, die einfach nur achtzehn Jahre alt waren, ein Kuss tat? Was die Genossin T. gesagt hatte, tat zwar weh, was H. gesagt hatte, diesmal sogar, ohne die Haare zu schleudern, hatte ihr zwar das Glück als Schwindel bis in die Fingerspitzen geschickt, aber weder der einen noch dem anderen war, was sie dachte und fragte, gleichgültig gewesen. Gleichgültigkeit gab es in diesem Zirkel nicht, denn hier kam es auf jedes Wort an. Es genügt nicht, achtzehn zu sein.
Mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei hatte sie sich mitten in dieses Leben katapultiert, auch sie gehörte nun zu denen, in deren Leib und Seele die Gegenwart nach Jahrhunderten der Reglosigkeit endlich bei sich selbst angekommen war und vorwärts zu jagen begann, viel zu groß und viel zu schnell war diese Gegenwart für einen allein, aber gemeinsam würden sie sich halten können auf der Höhe der Zeit, und zwar in vollem Galopp. Im Lebenslauf steht für all dies nur der Satz: 1920 trat ich der KPÖ bei. Bürgen waren der Vordenker der kommunistischen Bewegung, Genosse G., und die Genossin U., damals Leiterin der Ortsgruppe Wien-Margareten.
Die Bürgen muss sie angeben, auch wenn U. inzwischen aus der Partei ausgeschlossen worden war und nun, von den sowjetischen Gerichten wegen Hochverrats in Abwesenheit zum Tode verurteilt, in Paris lebte. Eine Linkssektiererin also hatte für sie gebürgt, damals, als sie noch jung war. Würde sie jetzt in ihrer Jugend festgenagelt, die Jugend selbst ihr vielleicht zum Vorwurf gemacht werden?
Im ersten Lebenslauf war der Name U. noch eine Empfehlung gewesen. Die
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