Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
Vom Netzwerk:
Richtige konnte erst von dem Moment an, in dem die Partei es aussprach und festschrieb, das Richtige sein, dazu war die Partei da: die Klugheit von vielen zu sein, und nicht die Klugheit von einem. Ein Einzelner konnte seinen Kopf verlieren, aber nicht eine ganze Partei.
    Kommunisten und Sozialdemokraten hatten, statt gemeinsam gegen Hitler anzutreten, sich gemeinsam geirrt, hatten auf zwei sorgsam getrennte, aber gleichermaßen falsche Bewertungen der Lage hin offensichtlich zwei sorgsam getrennte, aber gleichermaßen falsche Entscheidungen getroffen. Die Sozialisten hatten die Kommunisten als Radikalinskis bezeichnet, als Terroristen und Umstürzler, die Kommunisten die Sozialdemokraten wiederum als Arbeitermörder, als Sklaven des Großkapitals und Sozialfaschisten, und nach dem Aussprechen solcher und anderer Bezeichnungen war ein Bündnis unmöglich geworden. Kam es auf jedes Wort an?
    In den zwei Jahren zwischen dem einen Satz und dem andern war ihr Freund G. bei der illegalen Arbeit in Deutschland verhaftet und im Zuchthaus Brandenburg erschossen worden, ihre schöne Freundin Z. saß im Gefängnis, und vom Dichter J., Katzenhaare auf dem Jackett, braune Zähne vom Rauchen, wusste sie nur, dass er untergetaucht war, hatte aber nie wieder etwas von ihm gehört.
    Sicher, mit wem man sich verbündete, wann und zu welchem Preis, musste Moment für Moment neu entschieden werden. Bevor man gegen den Feind zog, musste man wissen, wer der Feind war. Aber wer konnte das wissen?
    G. war jetzt schon lange im märkischen Sand begraben, beide Augen für immer geschlossen, die Nazis hatten ihn als Hochverräter zum Tode verurteilt und hingerichtet. Lebte er noch, würde er inzwischen bestimmt auch hier in Moskau als Hochverräter gelten, denn bis zum Schluss war einer seiner besten Freunde der spätere Trotzkist A. gewesen. Diese Freundschaft, die damals noch kein Vergehen gewesen war, sondern nur etwas Unverständliches, ein Irrtum vielleicht, eine Starrsinnigkeit, ein kurzsichtiges Beharren, vielleicht aber auch, wer weiß, das Ergebnis sorgfältiger taktischer Erwägungen des Vordenkers der kommunistischen Bewegung G. – diese Freundschaft hätte sich indessen, da Hitler sich zu bleiben anschickte, und jede Fraktionsbildung sich als Stück vom großen Untergang erwies, ganz sicher in eine unverzeihliche Schuld verwandelt. Die Faschisten hatten G. 1934 für seinen Hochverrat im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet und so dafür gesorgt, dass, was seinen Genossen im Gedächtnis bleiben würde, sein Ruhm war. Der Tod ist der Anfang der Unsterblichkeit. Inzwischen aber ist die Ruhmeshalle versiegelt und das Jenseits nur noch ein unendlicher, sandiger Streifen zwischen den Fronten, ein Niemandsland, in dem all die in den letzten Monaten Abhandengekommenen, darunter nun auch ihr Mann, tot oder lebendig, sich bis in alle Ewigkeit die Füße würden wundlaufen müssen.
    Auch sie war mit dem später so genannten Trotzkisten A. seit ihrer ersten Teilnahme an einer Sitzung der Kommunistischen Zelle Wien-Margareten bekannt, war ihm auch nach seinem Parteiausschluss 1926 noch einige Male begegnet. Das letzte Mal in Prag, kurz vor ihrer Abreise nach Moskau. Verspätet war der dickliche Genosse zu einer Sitzung österreichischer Emigranten gekommen und hatte sich auf den einzigen noch freien Stuhl, neben sie, gesetzt, hatte den ganzen Abend über geschwiegen und geraucht, und nur einmal leise das Wort an sie gerichtet, um sie nach dem Schicksal des gemeinsamen Freundes G. zu fragen. Nach Berlin sei G. kürzlich geschickt worden, mehr wisse sie auch nicht. Verstehe, hatte der sogenannte Trotzkist gesagt. Der Rauch seiner Zigarette hatte dicht und unbewegt über ihm geschwebt, einen Moment lang hatte der Geruch sie an den untergetauchten Dichter J. erinnert. Bei der Verabschiedung vor dem Versammlungslokal hatte sie A., dem von den anderen Genossen keiner auch nur die Hand gab, plötzlich umarmt, aber er hatte mehr aus Erschöpfung, wie ihr schien, als aus Freundschaft die Umarmung erwidert.
    Einen schweren Fehler beging ich im November 1934. Ich nahm in Prag an einer Zusammenkunft österreichischer Schutzbündler teil, zu der auch der Trotzkist A. erschien, und berichtete darüber nicht der Parteiorganisation. Dafür erhielt ich von der Parteileitung eine strenge Rüge, die jedoch, als ich nach Gesprächen mit den Genossen Sch. und K. ehrliche Selbstkritik in Bezug auf meine mangelnde Wachsamkeit übte, gelöscht wurde.
    War es besser,

Weitere Kostenlose Bücher