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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sei doch keine Vetternwirtschaft, sondern eine Hilfe unter Genossen. Wenn wir unsre Arbeit gut machen, brauchen wir keine Hilfe, hatte ihr Mann gesagt, hatte das Empfehlungsschreiben zerrissen und in den Papierkorb geworfen. Inzwischen war Jagoda seiner Funktionen enthoben, verhaftet und kürzlich beim dritten Schauprozess selbst angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Kamen die Nachfolger Jagodas vielleicht jetzt gerade die Treppe herauf? Hatte ihr Mann das Empfehlungsschreiben wirklich zerrissen, oder hatte sie, wie sie es sich während der Nächte seit seiner Verhaftung manchmal vorgestellt oder geträumt oder vielleicht doch erinnert hat, die Schnipsel wieder aus dem Papierkorb geholt, zusammengeklebt und das Schreiben zurück in die Lade gelegt? Dann würde es jetzt gefunden und gäbe den Grund ab für ihre Verhaftung? Unbedingt muss sie, bevor sie verhaftet wird, ihren Lebenslauf noch zuende bringen. Dann soll ihr Schriftstück gegen dieses andere Schriftstück, falls es wirklich jemand gefunden hat oder finden wird und es als Beweisstück gegen sie und ihren Mann verwenden will, kämpfen: Papier gegen Papier.
    Mit der Rolle an der Seite ihrer Schreibmaschine fährt sie die letzten acht Zeilen wieder aufwärts und schlägt dann so oft das »X« an, bis der Absatz, den sie zuvor geschrieben hat, unkenntlich geworden ist. Dann schreibt sie weiter.
    Tätigkeit für.
    In den Kämpfen.
    Reise zum.
    Arbeit an.
    Der, der und die.
    Der Wahlsieg Hitlers war ganz sicher eine Niederlage der deutschen Arbeiterklasse gewesen, aber konnte man ihn wirklich als eine Niederlage für die Kommunistische Partei Deutschlands bezeichnen, wie es ihr Mann damals getan hatte?
    Sch., der Mann im gelben Jackett, inzwischen Abgeordneter der Kommunistischen Internationale, hatte ihrem Mann damals erwidert:
    Hätten die Sozialdemokraten die Frontlinie nicht zwischen sich und den Kommunisten gezogen, sondern mit den Kommunisten eine Front gegen die Nazis gebildet, hätte es keine Mehrheit gegeben für Hitler.
    Wir haben die Arbeiter nicht an die Sozialdemokratie verloren, sondern an die Faschisten, hatte ihr Mann gesagt. Aber warum?
    Für diese Frage, die er im Grunde genommen sich selbst und gar nicht dem Abgeordneten der Kommunistischen Internationale gestellt hatte, war er von der Partei streng gerügt und zur Parteiarbeit auf der unteren Ebene versetzt worden.
    Ein Jahr lang hatte ihr Mann als Illegaler in Berlin die Beiträge einer Fünfergruppe abkassiert.
    Kurz nachdem ihr Mann nach Deutschland abgereist war, war sie auf dem zugefrorenen Neusiedler See mit ihrem Freund G.spazierengegangen und hatte ihn gefragt, ob man sich jetzt wünschen müsse, dass Marx sich geirrt habe, dass also mit der Verwilderung des Kapitalismus nicht die Kleinbürger ins Proletariat abgerutscht seien, sondern das Proletariat hinaufgerutscht sei ins Kleinbürgertum und als Kleinbürgertum Hitler gewählt habe?
    Wo aber sei dann die Arbeiterklasse geblieben?
    Marx habe nicht geirrt, hatte ihr Freund G. gesagt. Die Arbeiterklasse habe Hitler gewählt, aber dennoch liege H. falsch mit seiner Theorie von der Niederlage der Kommunistischen Partei.
    Aber Hitler wird doch die Arbeiter für die Interessen des Großkapitals in den nächsten Krieg führen und abschlachten lassen! Hat es nicht immer geheißen: Wer Hitler wählt, wählt den Krieg?
    Je schlimmer dieser Krieg ausfallen wird, hatte ihr Freund G. gesagt, desto besser für uns. Damit die Massen sich von ihm abstoßen und uns in die Arme laufen, können die Verbrechen, die er begehen wird, gar nicht groß genug sein.
    Sie hatte nach unten geblickt, um über diesen Satz nachzudenken, hatte auf die dünne Schicht Schnee geblickt, die auf dem Eis lag, und daran gedacht, wie flach das Wasser in diesem See in Wirklichkeit war. Riesig war er, aber beim Baden im Sommer stand einem das Wasser an keiner Stelle höher als bis zum Hals.
    Erst 1934 hatte sie ihren Mann in Prag wiedergesehen, von dort aus hatten sie sich beide um die Einreise in die Sowjetunion beworben. Kurz nach ihrer Ankunft in Moskau dann hatten sie Dimitroff auf dem VII . Weltkongress der Kommunistischen Internationale sprechen hören. In seiner Rede hatte dieser das Gleiche gesagt wie ihr Mann zwei Jahre zuvor:
    Hätten die Kommunisten die Frontlinie nicht zwischen sich und der Sozialdemokratie gezogen, sondern mit den Sozialdemokraten eine Front gegen die Nazis gebildet, hätte es keine Mehrheit gegeben für Hitler.
    Aber das

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