Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
sich bei der Sache meines Mannes H. um einen solchen Fall handelt und sich seine Unschuld erweisen wird.
Als sie ein Kind war, hatte ihr Vater manchmal im Dunkeln für sie Fratzen geschnitten, und gerade weil sie ihn so sehr liebte, war sie niemals ganz sicher gewesen, dass ihr Vater dann noch immer ihr Vater war. Immer hatte sie für möglich gehalten, dass er sich aus dem, den sie so gut kannte, jederzeit in etwas Tödliches verwandeln könnte, und das Tödliche sich in diesem Moment als sein Wesen erwies. Sein ganzes Leben konnte Verstellung sein, angesichts auch nur eines einzigen solchen Momentes der Wahrheit.
Am Sonntag hatte doch auch sie als christliche Tochter in der Kirche gesessen, während ihre jüdische Großmutter beim Einkauf auf dem Naschmarkt am nächsten Tag vielleicht angespien wurde.
Ein doppelbödiges Miststück hatte sie sich selbst damals, als sie ihre beste Freundin durch ihr Wünschen verriet, genannt.
Immer waren es Abhängigkeiten gewesen, immer war es die Angst, zu viel zu wünschen oder nicht zu genügen, die zur Lüge geführt hatte, zur Verstellung, zum Verschweigen. Rote, Rote, ging, ging, ging, Feuer brennt in Ottakring , immer war es die Angst, dass man zuviel von sich hergab oder zu wenig, du jüdische Sau , waren es die Stufen zwischen den Menschen, die Minderwertigkeiten, immer stieß einer einen andern die Stufen hinab, einer fiel, stieß den nächsten. Waren gerade sie, die Kommunisten, nicht angetreten, das Gefälle einzuebnen, damit jeder frei stehen könne, ohne zu fallen, ohne zu schieben, stoßen, geschoben, gestoßen zu werden, frei – ohne Angst?
Nie hat es einen unbestechlicheren und geradlinigeren Charakter gegeben als den meines Mannes. H. hatte in den drei Jahren, die wir in der Sowjetunion sind, keinen anderen Gedanken, als der Sache des Sozialismus zu dienen, den Faschismus zu bekämpfen, der Partei zu helfen.
Erst mit ihrer Liebe zu ihm war ihr klar geworden, wie groß immer schon ihre Sehnsucht danach gewesen war, kenntlich für jemanden zu sein, eins mit sich zu sein und zugleich eins mit einem anderen. Alles, was sie insgeheim bei sich immer Schuld genannt hatte, hatte sie ihm bekannt, die begangene, die eingebildete, die angeborene und die gewünschte – er hatte all ihre Scham fortgelacht und damit auch ihre Erpressbarkeit. Liebe hatte Aussprechen bedeutet, und das Aussprechen Freiheit, und zum ersten Mal hatte ihre Angst, nicht zu genügen, aufgehört.
Hatte nicht auch Lenins Prinzip der Kritik und Selbstkritik innerhalb der Partei ursprünglich die Gleichberechtigung der Genossen und das Vertrauen untereinander zur Voraussetzung und zugleich zum Ziel gehabt? War es nicht dieses Prinzip, das Wachstum ermöglichen sollte? Je radikaler der Einzelne seine Begrenztheit abstreifen würde, desto fester wäre der Zusammenhalt des Ganzen. Warum hatte G., den sie immer ihren klugen Freund nannte, seine Freundschaft zu A. nicht geopfert?
Wir lernen uns wirklich hier kennen im Flug der Reden, wir sehen uns ziemlich genau.
Das ist meine tiefe Erkenntnis, das, was ich hier verstehe, als Bolschewik, was ich hier erlebe, die Kraft des Bolschewismus, die geistige Kraft ist so stark, dass sie uns zwingt, die Wahrheit zu sagen.
Wir sollen als Kommunisten unser Gesicht zeigen, also den ganzen Menschen zeigen.
Da kann man nicht sagen, dass man gerade keine Zeit hatte, wachsam zu sein, weil man seiner Frau Geld auf die Datsche bringen musste.
Wenn wir erreicht haben, dass wir eine saubere Atmosphäre schaffen, dann werden wir bestimmt sauber und produktiv arbeiten.
Bis vor kurzem war sie sich mit ihrem Mann noch einig darüber gewesen, dass die eigenen Reihen ganz genau untersucht werden mussten, damit der Kern fest blieb. Auf dem Sofa hatte sie gelegen, er im Sessel gesessen und ihr aus dem dicken Buch vorgelesen, in dem der letzte Prozessbericht abgedruckt war. Nach Radek, Sinowjew, Kamenew, allen diesen Revolutionären der ersten Stunde, bisher sogenannten erprobten Kampfgefährten Lenins, hatte sich nun auch Bucharin öffentlich zu seiner Schuld, zu Verschwörung und Verrat bekannt, war verurteilt und erschossen worden. In seinem Schlussplädoyer hatte er gesagt: Wenn man sich fragt: Wenn du stirbst, wofür stirbst du? Dann ergibt sich plötzlich mit erschütternder Deutlichkeit eine absolut schwarze Leere. Es gibt nichts, wofür man sterben müsste, wenn man sterben wollte, ohne bereut zu haben. So hatte er diese letzte Gelegenheit genutzt, um sich noch einmal
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