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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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erlebt hat.
    Einem deutschen Freund von ihr hat man, als sein deutscher Pass ablief, die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert, ihm aber freigestellt, in die deutsche Botschaft zu gehen und dort seinen Pass erneuern zu lassen. Hat ihm freigestellt, bei den Faschisten vorstellig zu werden, auf deren Listen er stand, ihm freigestellt, sich zu stellen. Gestorben ist er nicht ganz zwei Monate später in einem KZ bei Weimar. Er hat die Prüfung bestanden. Ein anderer Genosse ist in die deutsche Botschaft gegangen und mit einem neuen Pass herausgekommen. Ihn hat der NKWD in Empfang genommen und als Spitzel der deutschen Seite erschossen. Er hat die Prüfung nicht bestanden. Tot sind beide.
    Nach Hitlers Machtübernahme kam ich nach Prag. Ich muss sagen, da war bei mir absolute Depression. Niemals in meinem Leben habe ich vorher deutschen Boden verlassen. Es war sehr schwer für mich, mich zu trennen. Ich weiß, dass es mein einziger Wunsch war, so rasch wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich überlegte sogar, mich zu verkleiden. Das wäre natürlich Wahnsinn gewesen. In nächtelangen Diskussionen hat Genosse F. mich davon überzeugt, nach Moskau zu fahren. Aber das Schreiben fällt mir hier schwer. Wir sind tatsächlich abgewiesen von Deutschland und noch nicht verwurzelt in der Sowjetunion.
    Auch ihr Pass ist seit dem Anschluss Österreichs ein deutscher Pass. Auch ihr Pass ist vor drei Wochen abgelaufen. Dreimal schon hat der sowjetische Beamte am Schalter nach Begutachtung dieses Passes das Schalterfenster vor ihr heruntergeschoben.
    Ohne einen gültigen Pass gibt es keine Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung, keinen Propusk , den sie aber braucht, um in ihrer Wohnung weiterhin wohnen zu dürfen. Der Hauswart lässt sie wenigstens nachts, wenn es keiner sieht, in ihre Wohnung hinauf, aber es wird nicht lang dauern, dann ist die Wohnung an jemand anderen vergeben. Wo soll sie dann hin?
    Während sie an ihrem Lebenslauf schreibt, lauscht sie auf die Geräusche des Fahrstuhls. An dem Tag, an dem der Fahrstuhl früh gegen 4 oder 5 Uhr auf ihrer Etage anhalten wird, wird es so weit sein. Tagsüber sitzt sie im Kaffeehaus Krasni Mak , Roter Mohn, und übersetzt zu ihrem eigenen Vergnügen Gedichte aus dem Russischen ins Deutsche. Ohne einen Propusk gibt es auch keine Arbeitserlaubnis. Das Geld, das sie von ihrem Mann noch hat, wird, wenn sie sparsam damit umgeht, allenfalls für die nächsten zwei Wochen reichen. Was dann?
    Nachts arbeitet sie, statt zu schlafen, an ihrem Lebenslauf, mit dem sie sich um die sowjetische Staatsbürgerschaft bewirbt. Aber wenn es auch für diese Prüfung gar keine richtige Antwort gibt?
    Wird man sich irgendwann nur noch einer einzigen Sache sicher sein können, nämlich dass jeder, der hier oder drüben in Deutschland stirbt, das Ziel endlich erreicht hat, dagegen jeder, der all das, hier oder drüben in Deutschland, überlebt, sich sein Leben durch Verrat erkauft hat?
    Ihrem Vater hatte sie manchmal die Brille von der Nase genommen und geputzt. Sie und ihre Freundin hatten sich manchmal nebeneinander gestellt und die Beine verglichen. Neben dem Mann ihrer Freundin hatte sie eine Nacht lang wach gelegen und geweint. Für den Genossen G. hatte sie Papierstapel mit einemmal durchgeschnitten. Ihren Mann hatte sie, bevor sie ihn das erste Mal küsste, beim Haarschopf gepackt und zu sich gezogen. War sie überhaupt jemals dieselbe? Gab es auch nur zwei Momente in ihrem Leben, in denen sie mit sich selbst vergleichbar war? War nicht das Ganze das Wahre? Oder war alles Verrat? Wenn der, der den Lebenslauf lesen wird, für sie kein Gesicht hat, welches soll dann das Gesicht sein, das sie ihm zeigt, welches blinde Gesicht einem blinden Spiegel?
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    M ein Mann wurde am 25. Oktober 1938 verhaftet.
    Der Genosse Sch., im gelben Jackett, hatte, wenn eine Genossin und ein Genosse sich ineinander verliebten, immer mit Verachtung gesagt: Sie privatisieren . Frankreich, England und Amerika hatten inzwischen Hitlers Regierung anerkannt. Wenn jetzt einer von ihnen in die falsche Idee verliebt war, stand er damit, ob er es selbst so sah oder nicht, objektiv auf der Seite der Faschisten. Freundschaft, Liebe und Ehe waren in Zeiten, in denen alles sich auf einen Krieg zubewegte, tatsächlich eine schwierige Sache.
    Wir wissen heute, dass Volksfeinde unter dem Deckmantel politischer Wachsamkeit ehrliche Genossen verleumdeten, ihre Verhaftung veranlassten. Ich bin der Überzeugung, dass es

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