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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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einen Fehler, den man eingesehen hatte, beim Namen zu nennen und ihm so die Kraft, mit der er, Jahre später, einen selbst niederzuwerfen drohte, zu nehmen? Und entsprach die Kraft, mit der so ein Fehler angriff, nicht im Grunde der Überzeugung, mit der man ihn begangen hatte, schuf man sich selbst also das, was einen zu Fall brachte, ohne jedoch zu wissen, wann und wodurch?
    Musste sie überhaupt erwähnen, dass ihre Selbstkritik akzeptiert wurde? Also die gelöschte Strafe erwähnen? Oder hatte das Löschen ausgereicht? Sicher gab es Papiere über alles, Berichte anderer. Sicher wurde sie in dem oder jenem Lebenslauf eines andern, der oder jener Selbstkritik eines andern erwähnt. Soll sie also das, was gelöscht ist, einfach nicht mehr erwähnen, eben weil es gelöscht ist, aber das könnte ihr als böswilliges Verschweigen ausgelegt werden, oder es wieder ins Licht heben, als Gelöschtes, aber dann wäre es ja nicht gelöscht? Um Ehrlichkeit geht es, um eine solche Ehrlichkeit, dass jeder vor dem anderen wie nackt daliegt. Wer aber wird dieser andere sein? Und was ist die tiefste Schicht, die man offenlegen kann? Heißt Reinigung, dass man sich zum Schluss noch das Fleisch abschabt bis auf die Knochen?
    Und dann, was sind die Knochen?
    Zu Beginn der zwanziger Jahre hatten sie in abendlichen Zirkeln die Bewegungen des Geldes studiert, sein Herumwabern und die Eigenmacht, die es über die Menschen gewann.
    Die Inflation kann heute einen Menschen gründlicher vernichten als ein Colibakterium, hatte G. gesagt.
    Jetzt, fünfzehn Jahre später, waberte etwas herum und gewann Macht über die Menschen, was keiner von ihren Freunden, was weder ihr Mann noch sie selbst hätten benennen können. War die Zeit so schnell vorüber gegangen, in der die Worte selbst Wirklichkeit waren, ebenso wirklich wie eine Tüte Mehl, ein Paar Schuhe oder eine Volksmenge, die in Aufruhr gerät? Bestand stattdessen jetzt die Wirklichkeit selbst nur noch aus Worten? Wessen Augen würden die Buchstaben, die sie jetzt schrieb, zu Wörtern zusammensetzen, und die Wörter zu einem Sinn? Was würde ihre Schuld genannt werden und was ihre Unschuld? Kam es auf jedes Wort an? Was sind die Knochen?
    Seit der Verhaftung ihres Mannes fühlt sie sich hier zum ersten Mal als Fremde, dabei waren doch sie und ihr Mann ursprünglich heimgekehrt in dieses Land, auch wenn sie es 1935 zum ersten Mal betraten. Heimgekehrt in die Zukunft, die ihnen gehören sollte. Unsere Metro, hatten sie und ihr Mann gesagt, als sie die neueröffneten unterirdischen Stationen zum ersten Mal sahen, unser Gastronom Nr. 1, als sie zum ersten Mal einkaufen gingen in dem riesigen Lebensmittelgeschäft, sechsunddreißig Sorten Käse gab es, überhaupt Lebensmittel in Hülle und Fülle, deren Namen man in Wien und in Prag schon beinahe vergessen hatte, weiße Häubchen trugen die Verkäuferinnen, und Käse, Fleisch, Wurst, Brot und Gemüse fassten sie nicht mit den Händen an, sondern berührten die Ware nur mit Gabeln oder Gummihandschuhen. Das Berühren der Ware mit den Fingern ist strengstens verboten. Sicher, in den kleinen, alten Geschäften konnte es noch passieren, dass Mehl in selbstgedrehten Tüten aus Zeitungspapier verkauft wurde, hier und da hatten die Sitten der alten, schmutzigen Zeit noch überlebt, aber im Glanz der Moderne würden sie sich bestimmt bald verlieren. Eines Tages hatte sie sogar ihrer Mutter ein Paket geschickt, mit Käse, Gänseschmalz, Kaviar, Würsten und Bonbons. Die Mutter sollte nur sehen, dass sie, die ungeratene Tochter, doch alles richtig gemacht hatte. Was in der Sowjetunion glückte, glückte in ihrem eigenen Leben. Die Mutter hatte ihr in einem Brief gedankt und gefragt, wie es ihr gehe. Und sie war stolz darauf gewesen, in ihrer Antwort schreiben zu können: sehr gut. Irgendwann sollte eine Tochter auf die Frage der Mutter, wie es ihr gehe, nichts anderes antworten müssen. Das sehr gut bleibt nun, komme, was wolle, für immer bei ihr. Sehr gut gehe es ihrem Mann, schreibt sie, wenn die Mutter sie fragt, ob auch H. wohlauf sei, denn für jemanden, der die Wahrheit nicht kennt, macht es ja keinen Unterschied, ob einer verhaftet ist oder einfach nur sehr weit entfernt. Sehr gut schreibt sie, wenn die Mutter sich nach Wohnung und Arbeit erkundigt. Die Wirklichkeit hinter dem sehr gut hat sich allmählich verschoben, aber das geht die Mutter nichts an. Schade nur, dass der Vater, der immer auf ihrer Seite war, die Zeit ihres Glücks nicht mehr

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