Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
zur Sowjetunion zu bekennen.
Sie und ihr Mann waren Bucharin ganz zu Beginn ihrer Moskauer Zeit persönlich begegnet. An ihrem allerersten Tag hatte er die österreichischen und deutschen Genossen, die gerade aus der Illegalität angekommen waren, im Hotel angerufen und ihnen ein Stück Brot und Speck aufs Zimmer gebracht.
Würde sie noch Gelegenheit haben, das Geräusch zu beschreiben, das die Seiten des dicken Buches beim Umblättern machten? Seite für Seite hatte sie in der Stimme ihres Mannes davon gehört, wie die Lebendigen sich in ihre eigenen Gespenster verwandelten.
Erst jetzt, seit sie allein ist, fragt sie sich, ob wirklich alles, was schwach ist oder zum Rand hin tendiert, so radikal abgeschnitten werden muss. Der Kern einer Kugel, würde ihre kleine Schwester, die in Mathematik immer so gut gewesen war, wahrscheinlich jetzt sagen, ist im Grunde genommen ein Punkt, und zwar einer, dessen Größe im negativen Bereich gegen Unendlich geht. Aber was war der Kern? Eine Idee oder ein einzelner Mensch? Stalin vielleicht? Oder der ganz und gar menschenlose, ganz und gar reine Glaube an eine bessere Welt? Aber in wessen Kopf sollte der Glaube denn wohnen, wenn eines Tages überhaupt kein Kopf mehr da war? Ein Einzelner konnte seinen Kopf verlieren, nicht aber eine ganze Partei, hatte sie noch vor zwei Jahren gedacht. Inzwischen sah es so aus, als könne durchaus eine ganze Partei sämtliche Köpfe verlieren, als schleudere die Kugel selbst all ihre Punkte davon, und würde kleiner und kleiner, nur um sich ihres eigenen Zentrums zu vergewissern.
Im negativen Bereich gegen Unendlich.
In Wien hatte ihr Mann früher darüber gelacht, wenn in einer Theaterkritik gestanden hatte: Er spielte nicht Othello – er war Othello. Altmodisch hatte er diese Begeisterung über die gelungene Illusion genannt. Das Verschmelzen des Darstellers mit der Maske hatte er als den Gipfelpunkt bürgerlicher Verlogenheit interpretiert, und jetzt warf man ausgerechnet ihm im Land der Zukunft, in dem sich in der Arbeit aller für alle kein Betrug mehr verbergen sollte, in dem der Gewinn des Einzelnen allen zugute kommen und deshalb der Egoismus und alles Taktieren an der Basis ausgehebelt sein sollte, Doppelzüngigkeit vor? Hatten sie als ständig Gejagte so oft die Namen gewechselt, dass den eigenen Genossen die Erinnerung an das, was hinter ihren Namen lag, entflohen war? Warum sonst war jetzt so oft die Rede von Masken und Larven? Oder hatten sie, während sie gegen den äußeren Feind kämpften, sich diesem tatsächlich längst anverwandelt, ohne es selbst zu merken? Würde das, was aus ihnen schlüpfte, ihnen selbst feindlich gesonnen sein? Hatte ihr eigenes Wachsen, ohne dass sie es selbst bemerkten, die Seiten gewechselt?
Jeder Mensch, der dialektisch funktioniert, hat alle Gedanken in seinem Kopf. Die Frage ist nur, welchen Gedanken ich rauslasse. Es ist selbstverständlich, der Mensch ist schuldig. Daneben entsteht der Gedanke, der Mensch ist unschuldig. Hier ist kein Ausweg dadurch zu finden, dass ich immer wieder den jungen Dichter D. aufmarschieren lasse, der unschuldig ist. Es kommt immer wieder auf der einen Seite der unschuldige D., und auf der anderen Seite eine zufällige Verhaftung. Der Mann ist unschuldig, und ich sehe, dass er unschuldig ist, und ich helfe dazu, das zu beweisen, und dann wird er verhaftet, und das bedeutet, dass die Verhaftung eine zufällige Sache ist. Aber dadurch, dass die Verhaftung nicht zufällig ist, wird auf der anderen Seite bewiesen, dass der Mann nicht unschuldig ist. Deshalb will ich dir recht geben. In einer Sache, wo du doch nicht recht hast.
Auf diesem Stück Steppe, 45.61404 Grad nördlicher Breite, 70.751954 Grad östlicher Länge, gibt es nur drei Monate im Jahr keinen Frost. Schon in wenigen Wochen wird das Gras die grüne Farbe, die es jetzt noch hat, verlieren, es wird braun werden und, wenn im Wind ein Halm gegen den anderen geweht wird, leise rascheln. Bevor noch der erste Schnee fällt, werden winzige Eiskristalle die Halme überziehen, auch die kleinen Steinchen auf der Oberfläche der Steppe werden, jeder ohne Ausnahme im gleichen Frost liegend, dann von Rauhreif überzogen und zusammengefroren sein. Vom ersten Frost an wird es dem Wind nicht mehr gelingen, sie noch durcheinander zu wirbeln.
Am Wochenende vor seiner Verhaftung war ihr Mann zu einer Sitzung gegangen und hatte hernach über das, was dort besprochen wurde, ganz gegen seine Art, kein Wort verloren. Er war
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