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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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gekommen, zuerst hatte er sich im Stehen an den Küchentisch angelehnt, irgendwann mit baumelnden Beinen auf dem Rand des Tisches gesessen und schließlich die Beine nach oben gezogen, um, immer im Reden, wie ein höchst lebendiger Buddha im Schneidersitz da zu hocken, auf dieser abgenutzten Tischplatte, auf der die Russen sicher schon zur Zarenzeit Pelmeni ausgestochen, später chinesische Genossen hartgekochte Enteneier in Asche, oder Franzosen Fleisch in einer Marinade aus Öl und Knoblauch gewälzt hatten. Sie selbst hatte anlässlich des VII . Weltkongresses vor zwei Jahren auf diesem Tisch Apfelstrudel für ihre dänischen, polnischen und amerikanischen Freunde gemacht. Wie ein gewaltiger Liebesakt war dieser Kongress gewesen, die Verschmelzung aller mit allen im gemeinsamen Kampf für eine Menschheit, die endlich zu sich selbst kommen würde. Sie und ihr Mann hatten im Anschluss an die Versammlungen oft nachts im Bett weiter darüber diskutiert, wie die neue Weltordnung aussehen müsste, ob es überhaupt noch eine Ordnung sei, und welches neue Band das alte Band der Zwänge ersetzen würde.
    Dann schoss L. dazwischen und schrie mich an. Ich sagte zu ihm, halt doch den Mund. Dann drängte er mich an die Seite und fing an, mich an dem Hemd anzufassen.
    M. sagt, ich hätte ihn bei der Brust gepackt. Alle wissen, dass das nicht der Fall ist. Ich habe noch nie jemanden bei der Brust gepackt, ich denke nicht daran.
    Es standen 8 Genossen herum. Ich sagte zu L., fass mich nicht an. L. schrie: Fass mich nicht an. Ich sagte dann noch einmal: Nimm deine Pfoten hinweg.
    Auf einmal sagt Genosse M.: Tu deine dreckigen Pfoten weg.
    Dann fing L. an: Das werden Sie mir büßen, das kommt vor eine Parteizelle.
    Darauf schrie M.: Vielleicht waschen sie dir ja da deine dreckigen Pfoten in Unschuld!
    Genosse L. hat ein volltönendes Organ, und das hat er eingesetzt: Sie werden noch sehen, was ich aus einem wie Ihnen mache!
    Phantasie!
    In dem Zimmer, das sie in den letzten drei Jahren gemeinsam mit ihrem Mann bewohnt hat, und in dessen Leere sie jetzt wieder eintritt, hängt an der Wand noch immer der gelbe Wandteppich mit der gestickten Sonne aus ihrem ersten sowjetischen Urlaub. Jeden Morgen verlässt sie vor Tagesanbruch das Haus und stellt sich noch im Dunkeln vor der Ljubjanka 14, der Geheimdienstzentrale, an, um nach ihrem Mann zu fragen, danach geht sie zum Butyrki-Gefängnis. Hier wie dort werden die Schalterfenster vor ihr heruntergeschoben. An Pieck, an Dimitroff, Ulbricht und Bredel hat sie schon geschrieben, aber niemand kann oder will ihr Auskunft darüber geben, ob ihr Mann zurückkommen wird, ob seine Verhaftung ein Irrtum war oder ihm der Prozess gemacht werden wird, ob man ihn in die Verbannung schicken will oder erschießen. Oder schon erschossen hat. Plötzlich muss sie daran denken, wie der Freund ihrer Freundin in jener Nacht neben ihr saß, und seine Tränen ihm still vor die Füße tropften. Jetzt erst also weiß sie vom Leben genauso viel, wie er damals schon wusste. Mit der Verhaftung des Menschen, mit dem sie am engsten verbunden war, ist im Grunde genommen ihr eigenes Leben ihr selbst unerreichbar geworden.
    Ich ersuche Sie um Aufnahme in den Sowjetstaatsverband und bitte Sie, mir die Möglichkeit zu geben zu beweisen, dass ich ein sowjetischer Mensch bin.
    6
    A ls der Fahrstuhl gegen 4 Uhr morgens, kurz vor Sonnenaufgang, in ihrer Etage anhält, hört sie es nicht, denn sie ist, am Schreibtisch sitzend, über den Papierbögen eingeschlafen. Ihre Stirn liegt auf dem Wort Wachsamkeit , als die Beamten ins Zimmer kommen, um sie zu verhaften. Den kleinen, dunkelblauen Koffer, der schon seit langem neben der Tür bereitsteht, vergisst sie. Als im Haus wieder Stille einkehrt, steht er noch immer neben der Tür. Er enthält das Foto einer jungen Frau mit einem großen Hut, auf der Rückseite gestempelt vom Inhaber eines Fotogeschäfts in der Landstraßer Hauptstraße Wien, weiters ein vollgeschriebenes Heft, einige Briefe, einen österreichischen Pass, ein schmutziges, rotes Flugblatt, ein Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei Österreichs, ein Exzerpt über »Erdbeben in der Steiermark«, ein in Papier eingeschlagenes Typoskript, einen Zettel mit einem Rezept für Barches und ganz zuunterst ein kleines, schlunzig und schleißig genähtes Puppenkleid aus rosafarbener Seide.
    Und jetzt weiß sie endlich, wessen Stimmen sie die ganze Zeit gehört hat, bei minus 63 Grad Celsius trifft sie sie wieder. Wie

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