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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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erst gegen Morgen heimgekommen, hatte ihre Angst nicht fortgelacht, nicht seine Zähne gebleckt und nicht seine Haarsträhne nach hinten geworfen, war so schweigsam gewesen wie nur einmal vor zwei Jahren, nachdem er erfahren hatte, dass seinem Antrag auf Aufnahme in die KPdSU stattgegeben worden war, dem ihren dagegen nicht.
    Seit ihr Mann abgeholt wurde, weiß sie, dass sie, während sie hier ihr Leben aufschreibt, nicht nur mit ihrem Leben spielt, sondern auch mit dem seinen, nicht nur mit ihrem Tod, sondern auch mit dem seinen, oder spielt sie gegen den Tod, oder macht das Für und Wider dabei gar keinen Unterschied? Sie weiß, dass sie mit jedem Wort, das sie schreibt oder nicht schreibt, auch mit dem Leben ihrer Freunde spielt, so wie im Gegenzug dazu ihre Freunde, wenn sie zu ihr befragt werden, mit dem ihren spielen müssen. G., der Vordenker der kommunistischen Bewegung , hatte seine Freundschaft zum Trotzkisten A. bis zuletzt nicht geopfert.
    Wie ich erfahre, lebt Genosse H. seit ungefähr 3 Jahren mit seiner Frau, der Genossin H., zusammen in Moskau. Er kannte sie zwar schon früher, aber seit 3 Jahren ist der Bund geschlossen. Hat sich Genosse H. über ihre Biographie aus der früheren Zeit bei anderen Genossen erkundigt, oder kennt er sie nur aus ihrem Mund?
    Meine Frau, die Genossin H., ist, wie viele von euch wissen, seit 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs.
    Unmittelbar vor ihrer Abreise nach Moskau hat sie in Prag Kontakt gehabt zu dem Trotzkisten A.
    Darüber kann ich nichts sagen, ich war damals noch in Berlin.
    Wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, über alles zu sprechen, was wir wissen.
    Erst in der späteren Arbeit hat sich A. zum Trotzkisten entwickelt. Ich kann dafür bürgen, dass die Genossin H. sich nicht mit ihm identifizierte und sich vor allem in der Beurteilung der Sowjetunion schärfstens von ihm abgrenzte.
    Meines Erachtens waren zwischen ihr und A. engere als nur freundschaftliche Beziehungen. Zum Abschied jedenfalls haben sie sich an diesem bewussten Abend umarmt, steht im Bericht des Genossen Sch.
    Darüber kann ich nichts sagen.
    Antworte auf die Frage: Waren bei ihr halbtrotzkistische, trotzkistische oder oppositionelle Strömungen zu spüren?
    Nein, damals nicht.
    Was heißt damals nicht ? Ich muss sagen, ich habe nicht das Gefühl der restlosen Wahrhaftigkeit. Was liegt noch dahinter? Warum spricht Genosse H. nicht von sich aus über den Fall der Genossin H. in diesem Zusammenhang? Warum muss er erst durch Zwischenfragen dazu gebracht werden, hierüber zu sprechen?
    Es war bei ihr von irgendeiner Opposition, in dem Sinne innerhalb der Partei, keine Rede.
    Ich hoffe, es ist allen Genossen klar, dass wir in kritischen Situationen unseren Mann stehen müssen. Wir müssen diesen Banditen, die unsere Genossen in Deutschland foltern und ihre Spione hierherschicken, mit Vernichtungswellen begegnen. Was, wenn es den Schuften oder Konterrevolutionären wie A. gelungen wäre, auf den Genossen Stalin zu schießen? Genossen, es geht um die Frage: Frieden oder Krieg.
    Würde ihre mütterliche Freundin O., mit der sie sich Sommer für Sommer bis in den September hinein die Datsche geteilt hatten, bei einem Verhör verschweigen oder doch zugeben, dass sie gemeinsam an der Schuld des verhafteten jungen Dichters D. gezweifelt hatten? Hatte die Frau des kürzlich wegen trotzkistischer Umtriebe zum Tode verurteilten und erschossenen Autors V., die jetzt von Schneiderarbeiten lebte und deshalb zur Anprobe in ihr Zimmer gekommen war, vielleicht wirklich in ihren Papieren gewühlt, während sie selbst auf der Toilette war? Warum wurde R., mit dem sie und ihr Mann zu Beginn ihrer Moskauer Zeit so viele gute Gespräche über Literatur geführt hatten, genau eine Woche vor der Verhaftung ihres Mannes in die deutsche Wolgarepublik abkommandiert? Wer war dafür verantwortlich, dass in der Rezension, die sie im Juli für die Deutsche Zentralzeitung geschrieben hatte, der letzte Satz einfach gestrichen worden war, so dass ihre Stellungnahme gegen das Buch des schnurrbärtigen K. sich ins Gegenteil verkehrte? Und war das ihr Glück oder ihr Unglück? Lange schon trifft sie sich nicht mehr mit den Freunden, mit denen sie in den ersten Jahren manchmal Karten gespielt hat, die literarischen Arbeitsgemeinschaften wurden schon vor zwei Jahren aufgelöst, nicht einmal Versammlungen der deutschen Parteigenossen finden mehr statt. Ihre Freundin C., die sich früher so oft bei

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