Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
ihr ausgeweint hat, weil sie keine Kinder bekommen konnte, hat ihr neulich nicht einmal mehr zugenickt, als sie draußen am Café Krasni Mak vorüberging und sie, die Frau des verhafteten H., drinnen hinter dem Fenster sitzen sah.
Und sie selbst?
Bei den Proben für das letzte Theaterstück, das ihr Mann vor seiner Verhaftung geschrieben hatte, waren innerhalb weniger Tage fünf von acht Schauspielern verhaftet und die Proben daraufhin bis auf Weiteres ausgesetzt worden. Die Genossin Fr., die Frau eines dieser Schauspieler, war gestern im Café auf sie zugekommen, sie hatte Sascha, ihren neunjährigen Jungen, an der Hand gehalten und sie inständig gebeten, ihr und dem Kind wenigstens für eine Nacht Quartier bei sich zu geben. Ich kann nicht, hatte sie der Frau geantwortet. Die Frau hatte sich ohne ein weiteres Wort umgedreht und war wieder hinausgegangen, mit dem Kind an der Hand. Ich kann nicht. Noch vor wenigen Wochen hatte ihr Mann in den Probenpausen Papierflieger für Sascha gebaut. Unvorstellbar lange scheint es ihr her zu sein, dass sie von Majakowski gelernt hat: Es genügt nicht, achtzehn zu sein.
Im Kampf gegen die Willkür und die Menschenverachtung der Faschisten haben sie alle ihr Leben riskiert, haben mit dem Tod, der der Faschismus ist, gerungen, und viele von ihnen sind ihm dabei zum Opfer gefallen. Wenn die junge und schöne Sowjetunion im Gegensatz dazu aber, wie sie noch immer glaubt, das Leben selbst ist, kann doch der Tod hier keine Währung mehr sein. Dann kann, wenn hier auch nur einer von ihnen, den Kämpfern gegen Willkür, durch Willkür sein Leben verliert, sein Tod nur bis in die tiefste Tiefe umsonst sein, und nichts mehr, was es hier gibt, hätte den Namen Leben verdient, auch wenn es, von außen betrachtet, vielleicht noch so aussähe.
Wenn aber im Land der Zukunft der Tod noch immer eine Währung wäre, in der man für eine Schuld, die man nicht kennt, bezahlt, wenn es also nicht einmal hier geglückt wäre, die Trennung zwischen den Menschen, die Handel, Geschäft und Betrug heißt, niederzureißen, wenn es auch hier noch die verfluchten zwei Seiten der Menschheit gäbe, wie bei jedem beliebigen Handel der alten Welt, unüberbrückbar, dann hieße das, der Kauf hätte ohne ihr Zutun längst stattgefunden, und alle ihre Genossen, auch sie und ihr Mann, wären längst schon verraten und verkauft, und würfen nur einem Verkäufer, den sie nicht kennen, den Kaufpreis noch nach, der aus ihnen selber besteht, und zwar nicht ein-, zwei- oder drei-, sondern zehn-, hundert- und tausendfach vielleicht sogar.
Ist es also wirklich schon soweit, dass sie nur noch hoffen kann, die Geheimdienstbeamten, die ihren Mann von ihr gerissen haben, seien nur Verräter, Volksfeinde unter dem Deckmantel politischer Wachsamkeit , seien, womöglich bis in die höchsten Ebenen hinauf, Hitlers Leute? Denn nicht nur ihr Mann, sondern alle, von deren Verhaftung sie bisher gehört hat, sind ihr lang vertraute Genossen gewesen. Beinahe sicher ist sie sich jetzt: Nur wenn Hitler in Wahrheit ihr Widersacher ist, sogar hier, in der Hauptstadt der Sowjetunion, nur dann kann über Misshandlung und Tod der Antifaschisten hinaus deren Hoffnung auf eine bessere Welt lebendig bleiben. Oder will vielleicht Stalin selbst, als Hitler verkleidet, der wiederum als Stalin verkleidet ist, zweifach maskiert, zweifach verlarvt und tatsächlich doppelzüngig – als sein eigener Agent, aus Angst, in einer guten Welt die Hoffnung auf eine bessere für immer zu verlieren, aus Angst vor dem Stillstand, die kommunistische Bewegung noch einmal ins Hoffen zurückmorden? Vielleicht träumen sie alle gemeinsam einen Alptraum, aus dem es niemals mehr ein Erwachen geben wird, und in diesem Alptraum ist Stalin der gute Vater, der mit dem Messer in die Schlafstuben seiner Kinder fährt?
Unser Land, es blüht, gedeiht,
Höre, Liebling, höre,
Unser ward’s auf ewige Zeit.
Hör es, Liebling, höre.
Kind, dein Land wird gut bewacht,
Schlaf, mein Kindchen, schlafe,
Rotarmist hält draußen Wacht.
Schlaf, mein Liebling, schlafe.
5
W ährend sie aufsteht, um sich aus dem Samowar in der Gemeinschaftsküche noch einmal heißes Wasser für ihren Tee zu holen, begegnet sie auf dem Flur dem indischen Genossen Al. Er grüßt, fängt aber heute kein Gespräch mit ihr an. Sicher hat auch er inzwischen von der Verhaftung ihres Mannes gehört. Letzten Monat, als er in Moskau noch neu war, waren sie und ihr Mann beim Kochen mit ihm ins Gespräch
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