Allerliebste Schwester
Wanne, prüft die Wassertemperatur, taucht vorsichtig einen Fuß hinein. Schön heiß, das wird gegen die Kälte helfen. Sie will schon hineinsteigen, als sie innehält. Vermisst.
Eilig geht sie rüber ins Wohnzimmer zum Regal. Nach einigem Suchen findet sie die CD mit ihren eigenen
Chansons, die sie vor Jahren aufgenommen und schon ewig nicht mehr gehört hat.
Eva legt die silberne Scheibe in die Anlage und dreht so laut auf, dass sie die Musik auch noch im Badezimmer hören kann.
Sie lässt sich ins heiße Wasser gleiten, legt den Kopf gegen den Wannenrand und schließt die Augen. Durch die Tür schwappen die Töne zu ihr herein, sie hört sich selbst, und es kommt ihr vor, als würde da eine fremde Frau singen. Eine, mit der sie nichts mehr zu tun hat.
Plötzlich sind die Erinnerungen da. Sie, Eva, im November vor mehr als vier Jahren. Ein kleines Theater in Hamburg. Nur hundert Plätze, für die Präsentation ihres ersten eigenen Albums will sie keinen zu großen Saal, um nicht vor halb leeren Reihen zu stehen. Und es ist voll. Brechend voll. Nicht nur Freunde und Bekannte, auch fremde Menschen, die gekommen sind, um Eva zu lauschen. Leute, die vielleicht von ihr gehört haben oder die durch ein Plakat auf sie aufmerksam geworden sind.
Eva sitzt hinter der Bühne in der Garderobe, raucht und trinkt ein Glas Rotwein. Sie ist nervös. Dabei hat sie schon Hunderte Male auf der Bühne gestanden und gesungen. Aber bisher immer nur im Background, es ist das erste Mal, dass sie als Solistin den Abend bestreiten wird. Mit eigenen Stücken.
Sie spreizt ihre Finger, spannt sie an, reibt sie mit schnellen Bewegungen gegeneinander, damit ihr das
Blut in die Glieder schießt und sie warm und geschmeidig werden. Dann spielt sie auf dem Schminktisch vor sich stumm die ersten Takte an, lässt ihre Fingerkuppen über das Holz tanzen. Hier die weißen Tasten, da die schwarzen, sie sieht es genau vor sich. Nur die ersten Takte muss sie schaffen, dann wird alles wie von allein gehen, wenn sie nicht mehr nachdenkt, sondern die Musik ganz automatisch aus ihr hinausfließt.
Es klopft an der Tür.
»Ja?« Marlene steckt ihren Kopf herein.
»Na, Schwesterherz? Aufgeregt?« Eva nickt.
»Und wie.« Jetzt kommt Marlene in die Garderobe. Sie trägt das rote Kleid, stellt sich hinter ihre Schwester, legt ihr die Hände in den Nacken und massiert sie.
»Brauchst du nicht«, beruhigt sie sie. »Deine Stücke sind toll, du kannst super singen - was soll da schiefgehen?« Eva fasst sich an die Schultern, ergreift Marlenes Hände. Sie sehen sich im Spiegel an, diese zwei Frauen, die so gleich sind und doch so unterschiedlich. Evas Herzschlag wird ganz ruhig, sie lächelt Marlene zu.
»Danke.«
»Keine Ursache. Ich gehe dann mal wieder vor die Bühne, die Leute warten ja schon. Wenn du mich suchst: Tobias und ich sitzen in der ersten Reihe.«
Ein letztes Mal sieht Eva sich im Spiegel an. Die Haare fallen weich über ihre Schultern, das dunkle Kleid ist perfekt für ihren Auftritt. Dann steht sie auf, geht zum Seitenaufgang der Bühne. Im Saal lautes Gemurmel, eine wabernde Masse, die nur auf sie wartet. Sie strafft die Schultern, steigt die drei Stufen hoch hinaus ins
Licht. Beifall erklingt, Eva geht zum Klavier, setzt sich, schiebt das Mikrofon zurecht, legt ihre Finger auf die Tasten und beginnt.
Eineinhalb Stunden später tosender Applaus. Eva betrunken davon, sie saugt ihn in sich auf, verbeugt sich wieder und wieder, fängt Blumen auf, die aus dem Nichts geworfen werden. »Bravo!«, hallt es von den Wänden zurück, immer wieder »Bravo!«. Das ist ihr Leben. Das hat sie immer gewollt, sie ist am Ziel.
»Du warst großartig!«, ruft Marlene, als Eva schließlich wieder hinter den Vorhang tritt, wo ihre Schwester schon auf sie wartet. Sie fällt ihr um den Hals und küsst sie. »Das war ein Riesenerfolg! Ich bin richtig stolz auf dich!« Sie geht zur Seite, um Tobias gratulieren zu lassen. Auch er nimmt sie in den Arm, drückt sie an sich und versichert ihr, dass es dem Publikum gefallen hat. Fünfmal fragt Eva nach, kann es immer noch nicht fassen, dass die Leute ihre Lieder mögen. Sie hat es gehofft, natürlich, aber die Gewissheit, dass es auch wirklich so ist, durchspült sie nun wie eine warme Welle.
»Dann wollen wir das mal feiern«, ruft Eva und nimmt kichernd Marlene in den Arm.
Sie gehen in die Theaterbar, wo Freunde, Kollegen und Evas Produzent warten und sie mit lautem Beifall begrüßen. Schon wird ihr
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