Allerliebste Schwester
Sein Vater nickt, macht dann Anstalten, aufzustehen. »Wenn du mich brauchst, bin ich ja im Gästezimmer. Und ansonsten hoffe ich«, ein abschätzender Blick auf seine Schwiegertochter, »dass wir morgen in Ruhe mit ihr reden können.« Tobias sagt noch etwas, aber Eva kann nicht mehr verstehen, was es ist, schon gleitet sie wieder in den Schlaf, die Augen fallen ihr von ganz allein zu.
Tobias sitzt bereits wieder angezogen in einem der Korbsessel, als Eva das nächste Mal erwacht. Er trägt Poloshirt und Jeans, kein Büro-Outfit, wie sie registriert. Heute wohl keine Agentur, aber natürlich nicht, nicht nach dem, was geschehen ist, jetzt ist er hier an der häuslichen Front gefordert. Noch immer hat Eva dieses Wattegefühl, als läge ein Weichzeichner auf allem, auf ihr, auf Tobias, auf dem gesamten Zimmer, die Konturen sind nicht richtig scharf.
»Guten Morgen«, er beugt sich zu ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Hast du gut geschlafen?« Eva nickt. Sie glaubt, dass sie gut geschlafen hat, jedenfalls kann sie sich an nichts Gegenteiliges erinnern. »Hier, mein Schatz.« Er reicht ihr wieder eine der blauen Tabletten, die sie diesmal sofort nimmt. Warum auch nicht? Bisher ist sie ja offenbar nicht gestorben, und sie mag dieses Gefühl, als würde alles in ihrem Innern plötzlich abgefedert, als würde sie nichts mehr
richtig treffen können. »Soll ich dir beim Anziehen helfen?«, will Tobias wissen und deutet auf einen leichten Hausanzug, den er schon am Fußende des Bettes bereitgelegt hat. Eva schüttelt den Kopf.
»Ich will gar nicht aufstehen«, sagt sie. Lieber wartet sie darauf, dass die nächste Pille wirkt und sie wieder einschläft, sehr angenehm, einfach diese Tablette schlucken und sonst nichts tun außer schlafen.
»Vielleicht nur ein kleines bisschen aus dem Bett, ein oder zwei Stunden?«, schlägt Tobias vor. »Wir könnten raus in den Garten gehen, das Wetter ist schön, und es ist richtig warm.« Sie willigt ein, auch hier wieder: Warum nicht? Ja, können sie doch machen, ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Zehn Minuten später führt Tobias sie an einer Hand hinaus auf die Terrasse.
Schwiegervater Rolf sitzt am gedeckten Frühstückstisch, trinkt eine Tasse Kaffee. Und nicht nur er. Auch seine Frau ist da. Und Evas Eltern. Angeregt unterhält man sich miteinander, bis Eva und Tobias aus der Terrassentür treten. Sofort stellt Evas Mutter ihre Tasse ab, springt auf, kommt auf ihre Tochter zugelaufen, umarmt sie stürmisch.
»Liebling!«, ruft sie aus. »Wir haben uns ja solche Sorgen um dich gemacht!« Dann lässt sie ihre Tochter los, bedenkt sie mit einem angemessen sorgenvollen Blick. »Gott sei Dank waren Tobias und Rolf hier, um sich um dich zu kümmern!« Sie schiebt ihrer Tochter einen Stuhl hin, Eva nimmt Platz. Als alle sitzen, ergreift Schwiegervater Rolf das Wort.
»Eva«, beginnt er. »Ich weiß, im Moment muss das
alles sehr verwirrend auf dich wirken, und ich kann mir vorstellen, dass du gerade nicht verstehst, was überhaupt los ist.« Alle Anwesenden nicken zustimmend, Eva bemüht sich, seine Worte durch den Wattebausch in ihrem Kopf hindurch zu verstehen. »Wir haben«, fährt er fort, unterbricht sich dann kurz, um sich zu räuspern, bevor er weiterspricht, »die Situation in den vergangenen Monaten wohl unterschätzt und die deutlichen Anzeichen übersehen. Umso unverzeihlicher, da ich Arzt bin und den Ernst der Lage nicht rechtzeitig erkannt habe.« Er legt die Stirn in Falten und rückt, ganz ernsthaft, seine Brille zurecht. »Wir sind der festen Überzeugung, dass du an einer schizophrenen Psychose erkrankt bist.«
»Schizophrene Psychose«, wiederholt Eva. Du Schizo, du Schizo, singt es durch ihren Kopf. Während ihrer Schulzeit ein beliebtes Schimpfwort auf dem Pausenhof, vor allem in den Ecken, in denen die Kids herumstanden, die heimlich rauchten. So wie Eva, lässig eine Kippe in der Hand, auf die anderen Schüler herabblickend. Ey, bist du schizo, oder was? Darüber muss sie lachen, ist sie jetzt schizo, oder was? Ihr Schwiegervater spricht weiter, aber Eva hört nicht mehr zu, ihre Gedanken kreisen immer noch um dieses Wort, schizo. Dann fällt ihr der Titel eines Buches ein: Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen. Als Teenager hat sie es mal gelesen, den Erfahrungsbericht eines schizophrenen Mädchens. Alle in ihrer Klasse lasen es, eine Art Kultbuch, kollektive Betroffenheitslektüre.
Eva erinnert sich an die Stelle, als die Hauptfigur
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