Allerliebste Schwester
dumpf. »Marlene«, formen ihre Lippen einen Gedanken, sprechen ihn laut aus: »Marlene war da.«
»Sie meinen Ihre Schwester?«
»Ja.« Er nimmt einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Kittels und notiert etwas auf dem Zettel, der vor ihm auf dem Tisch liegt und aussieht wie ein Formular. Dann die nächste Frage:
»Wissen Sie, dass Ihre Schwester tot ist?« Tot. Ja, natürlich weiß sie das, wie könnte sie das jemals vergessen?
»Ja«, antwortet sie erneut.
»Und«, er mustert sie eindringlich, »wissen Sie auch, wann das passiert ist?«
»Im Mai vor knapp vier Jahren.« Für diese Antwort hat sie noch nie nachdenken müssen, sie hat sich in ihr Gehirn eingefräst wie die Rillen ins Vinyl einer alten Langspielplatte. Wieder notiert er etwas, klopft danach mit dem Kugelschreiber auf dem Blatt herum.
»Aber sie haben Ihre Schwester trotzdem gesehen? Also, obwohl sie tot ist, meine ich? Oder haben Sie nur von ihr geträumt?«
»Nein, das war kein Traum.« Dann fügt Eva, jetzt etwas sicherer, hinzu: »Marlene war da.«
»Ist Ihnen klar, dass das unmöglich ist?« Ich bin tot. Ich kann alles.
»Ich bin müde.« Sie hat keine Lust mehr, mit diesem Arzt und seiner Nickelbrille zu reden, mag er sich auch noch so verständnisvoll geben.
»Möchten Sie sich nicht mehr mit mir unterhalten?« Eva schweigt, das ist Antwort genug. Der Arzt seufzt. »Hören Sie, ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mit mir reden.« Kein Sterbenswort mehr, nichts mehr, Ruhe, still! Ihre Gedanken sind so laut, als würde noch jemand - ein anderer als der Arzt - ebenfalls im Zimmer sitzen und mit ihr reden. »Ich glaube, dass Sie ernsthafte Probleme haben und wir Sie hier behandeln sollten«, spricht der Weißkittel weiter, als hoffe er immer noch, zu Eva durchdringen zu können. »Ihr Mann und Ihr Schwiegervater sind hier, um Sie abzuholen. Ich halte das für einen Fehler, aber der Richter hat nach dem Gespräch mit Ihnen - vermutlich vor dem Hintergrund,
dass Ihr Schwiegervater Arzt ist - von einer Zwangseinweisung abgesehen.« Gespräch mit ihr? Eva kann sich an nichts erinnern, wann hat ein Richter mit ihr gesprochen? Und was für eine Zwangseinweisung? Bevor sie sich einen Reim auf das alles machen kann, spricht der Arzt weiter: »Es steht Ihnen also frei, zu gehen. Es sei denn«, nun beugt er sich zu ihr vor, »Sie entscheiden, dass Sie freiwillig hierbleiben möchten, damit wir Ihnen helfen können.« Sie wägt das Für und Wider ab. Ihr helfen. Für einen kurzen Moment klingt das Angebot verlockend, sie ist so müde und schwach, dass sie sich nicht einmal vorstellen kann, ohne Hilfe jemals wieder von diesem Stuhl aufzustehen.
»Du solltest auf jeden Fall gehen.« Eva zuckt zusammen, beinahe hätte sie aufgelacht, bevor sie sich zusammenreißt. Da ist sie ja, die Hilfe! Marlene ist doch noch bei ihr, sie kann sie zwar nicht sehen, aber deutlich hören. War sie das eben auch schon, diese überdeutliche Stimme in Evas Kopf?
»Hat da gerade jemand mit Ihnen gesprochen?«, will der Arzt wissen und setzt eine argwöhnische Miene auf.
»Nein«, behauptet Eva, »außer Ihnen hat niemand mit mir gesprochen. Es ist ja auch sonst niemand hier, nicht wahr?«
»Sind Sie sicher? Ich glaube nämlich schon, dass Sie gerade eine Stimme gehört haben. Hat sie Ihnen vielleicht Anweisungen erteilt?«
»Nein«, wiederholt Eva. »Da war nichts, keine Stimme oder irgendetwas.« Einen Moment lang bleibt der
Mann im weißen Kittel noch unschlüssig sitzen. Schließlich steht er auf.
»Kommen Sie, dann hole ich jetzt Ihre Familie.« Wieder bringt er sie hinaus zu der roten Sitzgruppe, wo sie Platz nimmt, um auf die lieben Anverwandten zu warten.
»Soll ich versuchen, jetzt abzuhauen?«, will Eva wissen, als sie allein ist. Aber sie erhält keine Antwort. Sie fragt noch einmal nach, vorsichtshalber nur, doch Marlene erwidert nichts darauf. Nein, beschließt sie für sich selbst und denkt an die zwei Männer, die eben an ihr vorbei durch den Flur gelaufen sind. Hier ist es zu schwierig, besser, sie macht es, wenn sie wieder draußen ist. Dann wird sie weglaufen. Sie weiß auch schon wohin: endlich zu Simon, endlich ganz bei ihm sein, eine ganze Nacht mit ihm verbringen oder ein ganzes Wochenende, das hat er sich erst vor kurzem gewünscht. Jetzt kann sie es bald wahr machen, kann mit ihm alle Nächte und alle Wochenenden verbringen, wenn sie beide es wollen.
Einige Minuten später kommt Dr. Neumann zurück. Tobias und Rolf gehen neben ihm
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