Allerliebste Schwester
der
Geschichte sich mit den scharfen Kanten einer Blechdose die Arme aufschneidet. Nein, mit der hat sie nichts gemein, Eva hat sich noch nie die Haut aufgeschnitten. Tätowierungen sind etwas anderes. Der nächste Gedanke: Da gab es doch auch einmal dieses Lied! »I beg your pardon«, singt Eva leise, »I never promised you a rosegarden.« Ein Country-Song, glaubt sie, einfacher 4 /4-Takt, besonders geeignet für den Disco-Fox. Diesen Tanz hat sie immer gehasst, denn er stand für alles andere, was sie so hasste: Für Dorf-Scheunenfeste und Wolfgang-Petry-Imitatoren, Cola-Rum bis zum Abwinken, rausgewachsene Blondierungen und Dauerwellen, für Männer mit Schnurrbärten und in Hochwasserhosen, für …
»Sie hört dir nicht mehr zu.« Tobias. Sie betrachtet ihn. Er würde nie Hosen tragen, die zu kurz sind. Und er würde sie nie irgendwohin ausführen, wo Disco-Fox getanzt wird. Was will sie eigentlich mehr?
»Du hast noch nie Disco-Fox getanzt, oder?«, fragt sie ihn. Ihr Mann nimmt ihre Hand, drückt sie und lächelt.
»Nein, Schatz, das ist nichts für mich.« Dann wieder zum Vater: »Ich sage dir doch, sie ist mit ihren Gedanken ganz woanders.« Wieder an Eva gerichtet: »Hör uns bitte zu, es ist wichtig.« Ach so, wichtig ist es, dann will sie sich Mühe geben.
»Eva«, erklärt ihr Schwiegervater weiter, »die Geburt von Lukas hat bei dir eine postpartale Störung ausgelöst.«
»Postpartal?«, fragt sie. Aber dann der viel wichtigere
Gedanke. »Geburt?« Das war keine Geburt, nein, das war es nicht. Es war eine Folter, das tote Kind zur Welt zu bringen, das war es.
»Da spielen viele Aspekte zusammen, die veränderten Hormone, Veranlagung, dann natürlich der Schock, dass du das Kind verloren hast.« Du, hallt es in ihren Ohren wider, du hast es verloren. Nicht ihr, nicht Tobias und du, du allein bist es gewesen, niemand sonst. Sie betrachtet das ernste Gesicht ihres Schwiegervaters, lässt ihren Blick dann zu Tobias, ihrer Mutter und ihrem Vater wandern, dann zur Schwiegermutter, alle blicken sie ähnlich ernst drein, der Familienrat hat sich versammelt, die Krisensitzung wurde einberufen. »Du musst dir keine Sorgen machen«, spricht Rolf weiter, als hätte sie, Eva, sich Sorgen gemacht, »denn so eine Erkrankung kann ich gut mit Medikamenten behandeln. Dafür musst du auch nicht ins Krankenhaus, du kannst dich hier zu Hause in Ruhe erholen, bis es dir wieder besser geht.«
Wieder besser geht. Sie fragt sich, ob »zu Hause« und das Versprechen einer Besserung sich nicht widersprechen. Aber auch dieser Gedanke verfliegt, kaum dass sie ihn gefasst hat, lässt sich nicht festhalten in ihrem Wattekopf. Tobias tätschelt ihre Hand, lächelt sie an. Fast kommt es ihr vor, als sei er froh darüber, dass sie krank ist, dass es endlich eine Diagnose gibt, das Kind einen Namen hat. Dass sie, Eva, eine Behandlung braucht, eine Behandlung, die vom Schwiegervater höchstselbst durchgeführt werden wird. Und dann ist irgendwann alles wieder so, wie es sein soll.
20
Im Frühsommer laden sie zu einem abendlichen Hauskonzert ein. Die Schwiegereltern und Eltern kommen, Gabriele und ihr Mann, ein paar Verwandte und enge Freunde der Familie. Eva sieht erholt aus, es geht ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Gewissenhaft hat sie sich in den vergangenen Wochen auf dieses Ereignis vorbereitet, hat die Stücke einstudiert, mit denen sie früher auftrat und noch ein paar neue dazu. Sie freut sich auf den Abend, fast könnte sie sagen, sie sei zufrieden.
Die Tabletten, die Eva täglich vorm Einschlafen nimmt, haben Wirkung gezeigt: Sie ist von Marlene befreit, hat sie seit Wochen nicht gesehen oder gehört. Keine Schwester mehr, die ihr sagt, was sie tun soll, dafür hat sie jetzt Rolf und Tobias, die wissen, was am besten für sie ist. Auf keinen Fall schlucken, hörst du! Mittlerweile sind Marlenes Worte nur noch eine blasse Erinnerung. Eva hat sie genommen, hatte ja gar keine andere Wahl, die Tablette ist ihr doch auf der Zunge zerfallen. Und wenn nicht das, dann Spritze oder Krankenhaus.
Es ist gut so, Eva weiß nun, dass sie krank ist, dass sie ihrem Verstand seit dem Tod von Lukas nicht mehr trauen darf, dass sie nicht in der Lage ist, selbst zu beurteilen, was sie will und was nicht. Und deshalb nimmt sie auch jene Kapseln, die ihr Rolf irgendwann zusätzlich zu den zerfallenden Tabletten gegeben hat, jeden Abend freiwillig ein. Weil es ihr damit doch so viel besser geht. So viel leichter, so viel einfacher
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