Allerliebste Schwester
Arbeit im Buchladen wieder aufnehmen kann, sobald sie es sich zutraut.
Über den Abend, an dem Gabriele Eva für ihr Treffen mit Simon decken sollte, haben sie kein einziges Mal gesprochen. Es gibt keinen Grund dafür, rückblickend wird es nur eine unwichtige Episode in ihrer beider Leben sein. Auch Tobias sieht das so, er hat Eva diesen kleinen Seitensprung verziehen, der ihr passierte, als sie schlicht nicht wusste, was sie tat, als die Verwirrung sie in die Arme eines anderen Mannes trieb.
Nachdem Eva das letzte Stück gespielt hat, geht die Gesellschaft hinaus auf die Terrasse, um einen der ersten richtig warmen Abende des Jahres noch ein wenig zu genießen. Zufrieden wandert Eva zwischen den Gästen umher, ein Glas Champagner in der Hand - ein kleiner Schluck ist laut Rolf erlaubt -, plaudert mal mit Tobias’ Bruder und dessen Frau, dann mit ihren Eltern. Alle loben die Virtuosität ihres Klavierspiels, ihren fein nuancierten Anschlag, ihre Stimme. Schließlich geht Eva zu ihrem Mann hinüber, der Rolf und Anni gerade von den neuesten Erfolgen seiner Agentur berichtet.
»In diesem Jahr konnten wir den Umsatz schon um ganze dreißig Prozent steigern«, erzählt er stolz. »Und das, obwohl … Na, ihr wisst schon.« Die Eltern nicken, natürlich wissen sie. Dann bemerkt Tobias seine Frau,
nimmt lächelnd ihre Hand und zieht sie an seine Seite. »Das war wirklich ganz wunderbar, Schatz«, stellt er zum wiederholten Mal fest.
»Danke«, sagt sie. »Mir hat es auch Spaß gemacht, von mir aus können wir das öfter wiederholen, dann habe ich wenigstens einen Grund, fleißig weiterzuüben.«
»Gern«, erwidert Tobias und küsst sie auf die Stirn. »Da wären wir alle begeistert.«
»Vielleicht«, die Anerkennung der anderen beflügelt sie, »trete ich ja irgendwann auch mal wieder in einem etwas größeren Rahmen auf. Ich habe jedenfalls schon jede Menge Ideen für neue Stücke im Kopf, die ich unbedingt umsetzen will.«
»Na, na«, meint Schwiegervater Rolf mit mildem Lächeln, »wir wollen doch nicht gleich übertreiben! Du solltest es erst einmal ruhig angehen lassen und dich nicht überfordern.«
»Aber es überfordert mich nicht«, widerspricht Eva, »im Gegenteil, es tut mir sogar gut.«
»Sicher«, noch immer das milde Lächeln, »aber jetzt warten wir zunächst ab, wie sich alles in den nächsten Monaten entwickelt.« Kurz spürt Eva Unwillen in sich aufsteigen, sie ist doch kein Kind, dem man Vorschriften machen muss. Aber dann ist dieser Moment der Verstimmung auch schon wieder vorbei. Schließlich meinen sie es nur gut mit ihr, nicht wahr?
»Du siehst ein wenig müde aus«, stellt Anni jetzt fest.
»Ja«, meint auch Tobias, »du hast ganz glasige Augen.«
»Wirklich?«, fragt Eva und horcht in sich hinein. Ist
sie müde? Bisher hatte sie nicht den Eindruck, aber jetzt, da alle es sagen, fühlt sie sich doch ein bisschen matt und erschöpft. »Ich denke auch«, stimmt Rolf mit ein, »dass es für Eva das Beste wäre, sich hinzulegen. Es war ein anstrengender Abend für sie.«
»Ihr habt recht«, Eva nickt, »ich sollte mich wohl besser zurückziehen.« Artig verabschiedet sie sich von allen, nimmt die letzten Komplimente entgegen und wünscht den Gästen noch einen schönen Abend, sie sollen ihn ruhig weiter und ohne sie genießen, für sie sei es nun an der Zeit, ins Bett zu gehen.
Als Eva erwacht, liegt Tobias neben ihr, seine linke Hand ruht auf ihrer Hüfte, sein Atem geht ruhig und regelmäßig. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt kurz vor sechs, so früh wird sie sonst nie wach, gerade in letzter Zeit schläft sie meist bis in den Vormittag hinein, merkt nicht einmal, wenn ihr Mann aufsteht und zur Arbeit fährt. Warum auch nicht, hat sie doch im Moment keine Verpflichtungen, da ist niemand, der auf sie wartet, niemand, den es stört, dass sie sich von ihrer Müdigkeit erholt. Doch jetzt öffnet sie die Augen und ist hellwach, eilig schiebt sie die Hand ihres Mannes zur Seite, schlägt die Bettdecke zurück und ist mit einem Satz auf den Beinen.
Eine Hand presst sie sich vor den Mund, während sie aus dem Zimmer läuft, fast stolpert sie und fällt hin, kann sich im letzten Moment noch fangen, reißt die Tür zum Bad auf und wirft sich auf die Knie, so hart schlägt sie auf, dass es schmerzt. Gerade noch kann sie
den Deckel der Toilette öffnen, da ergießt sich schon ein Schwall aus ihrem Mund in die Schüssel.
Alles sprudelt heraus, alles, das Lammfilet mit Rosmarinkartoffeln,
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