Allerliebste Schwester
her, einer links, einer rechts, sie unterhalten sich angeregt, bleiben schließlich ein paar Meter entfernt stehen. Sie will lauschen, versteht aber nur Wortfetzen, die sie nicht interpretieren kann. Dann fällt der Begriff »Trauma«, zumindest da weiß sie, was damit gemeint ist. Für ein paar Wortwechsel scheint ihre Unterhaltung hitziger zu werden, aber gleich darauf werden die Stimmen wieder leiser. Die drei Männer beenden ihr Gespräch, Dr. Neumann
drückt Tobias einen Umschlag in die Hand, verabschiedet sich, Evas Mann und ihr Schwiegervater kommen zu ihr.
»Schatz«, Tobias setzt sich auf einen Stuhl neben sie, legt einen Arm um ihre Schulter. »Du hast uns allen wirklich einen riesigen Schrecken eingejagt.« Rolf nickt, so ein riesiger Schreck in der Morgenstunde, so etwas macht man ja auch nicht. »Dann lass uns jetzt nach Hause fahren.«
»Zu Hause« ist ein Trümmerfeld. Der BMW ist zwar nicht mehr da, Tobias wird ihn bereits in die Werkstatt gebracht haben, aber Teile der hölzernen Eingangstür sind zersplittert, die Spuren von Evas Wüten in Wohnzimmer und Flur hat ihr Mann bisher nur behelfsmäßig beseitigen können.
Hier, am Ort des Geschehens, kehrt die Erinnerung klar und deutlich zurück: Sie, Eva, mit dem Golfschläger, wie sie alles kurz und klein haut. Erstaunt sieht sie sich um, unglaublich, dass sie das war, dass das kleine, magere und kraftlose Wesen zu solchen Verwüstungen fähig ist. Tobias wird alles komplett renovieren lassen müssen, überall sind tiefe Einschläge in den verputzten Wänden zu entdecken, und auch die zersprungenen Bodenfliesen sind mit Sicherheit nicht mehr zu retten.
Tobias und Rolf bringen Eva ins Schlafzimmer hinauf. Ihr Schwiegervater geht hinaus und wartet im Flur, während sie sich ein Nachthemd anzieht, sich ins Bett legt und sich von ihrem Mann zudecken lässt.
Schön brav sein, denkt sie, heute Nacht wird sie sich dann davonstehlen, sobald sich ihr die erste Gelegenheit bietet. Kaum hat sie diesen Entschluss gefasst, tritt Rolf herein, setzt sich wie sein Sohn zu ihr auf die Bettkante. Er hält eine Tablettenschachtel in der Hand, holt einen Streifen aus der Verpackung und drückt eine kleine, blaue Pille heraus, die er ihr reicht.
»Hier, nimm die, dann kannst du auch besser schlafen.«
»Mir geht’s gut«, sagt Eva. Und denkt zur gleichen Zeit, dass das, was ihr Schwiegervater da in der Hand hält, bestimmt Gift ist. Jetzt wollen sie mich also vergiften, mich aus dem Weg räumen, um die viel zitierte Ecke bringen, weil ich ihnen zu unbequem geworden bin, nicht mehr funktioniere, wie ich soll. Im selben Moment der nächste, glasklare Gedanke: Marlene! Wieso ist sie nur auf diese Idee nicht schon viel früher gekommen? Das ist es, sie werden sie auch um die Ecke gebracht haben. Eva hatte ja von Anfang an Zweifel gehabt, dass ihre Schwester sich selbst das Leben genommen haben könnte. Wer denn sonst, außer die hier, diese zwei, die jetzt in ihrem Schlafzimmer sitzen und versuchen, ihr den Garaus zu machen, können Marlene getötet haben?
»Nimm die Tablette!«, fordert Rolf sie nun energischer auf. Den Teufel wird sie tun, sie ist nicht verrückt, nein, sie nicht, sie wird es ihnen nicht so leicht machen, sich ihrer zu entledigen. Im Gegenteil, sie wird endlich herausfinden, was damals wirklich passiert ist mit ihrer wunderschönen Schwester, wer Marlene
auf dem Gewissen hat. Wahrscheinlich waren sie alle daran beteiligt, die ganze Familie, ein regelrechtes Komplott.
Tobias, ihr Schwiegervater und dessen Frau, vermutlich sogar die eigenen Eltern. Und Gabriele, die wird auch mit dahinter stecken, natürlich, jetzt liegt es doch mehr als deutlich auf der Hand, die Anzeichen sind rückblickend betrachtet kaum zu übersehen! Das Einschmeicheln ihrer Chefin, dieses Betonen ihrer Freundschaft! Und kaum bittet Eva sie ein einziges Mal um einen Gefallen, zack, da fliegt sie schon auf, wird verraten und verkauft. Von wegen, sie war überrascht, als Tobias bei ihr vor der Tür stand, vermutlich war sie es, die Tobias alles brühwarm erzählt hat, die von Anfang an mit beteiligt war an der Verschwörung. Gaby, so nannte Tobias sie plötzlich, Gaby, das spricht eine deutliche Sprache, so nennt man keine Person, mit der man nichts gemein hat außer der Tatsache, dass die eigene Frau bei ihr angestellt ist.
»Eva, bitte nimm die Tablette, wir meinen es doch nur gut mit dir.« Tobias versucht es mal wieder auf die sanfte Tour. Eva presst die Lippen fest
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