Allerliebste Schwester
fühlt es sich an, kein ständiges Grübeln mehr, es ist, als hätte sich in ihrem Innern ein Schalter umgelegt.
Simon. Ja, manchmal hat sie noch an ihn gedacht. Hat sich gefragt, was er macht, ob er vielleicht irgendwann in die Buchhandlung zurückgekehrt ist, nachdem Tobias ihm die Nachricht auf der Sprachbox hinterlassen hat. Auf alle Fälle weiß er jetzt, dass Eva verheiratet ist, dass sie ihn belogen hat. Doch auch diese Grübeleien wurden leiser und leiser, bis sie schließlich ganz verstummten.
Jetzt, als sie am Flügel sitzt, sich warmspielt und noch einmal ein paar besonders schwierige Passagen probt, denkt Eva, dass sie doch alles hat, was sich eine Frau nur wünschen kann. Einen erfolgreichen und momentan sehr liebevollen Ehemann, ein sorgenfreies Leben in einem schönen Haus. In guten wie in schlechten Tagen , die schlechten, sie liegen nun endgültig hinter ihr, sogar die Musik hat sie für sich zurückgewonnen.
Es klingelt es an der Tür. Eva erhebt sich vom Flügel, streicht das rote Kleid glatt, das sie trägt, geht in die Halle, um die Gäste zu empfangen. Auf dem Weg ein letzter Blick in den großen Spiegel mit Goldrahmen, der neben der neuen Standuhr im Flur hängt. Die
hochgesteckten Haare sitzen perfekt, ein paar wie zufällig gelöste Strähnen fallen in Evas Gesicht, das wieder voller wirkt als noch vor kurzer Zeit, eine Nebenwirkung der Medikamente und der Pflege ihres Mannes, der darauf achtet, dass sie ausreichend isst. Nicht mehr Haut und Knochen, nein, wie pralle Pfirsiche zeichnen sich Evas Brüste unter der roten Seide ab, sie ist selbst überrascht, wie wunderschön sie aussieht. Wieder klingelt es, Eva eilt zum Eingang. Großes Hallo von allen Seiten, man freut sich, heute Abend hier zu sein, Blumensträuße, Weinflaschen und kleine Geschenke werden als Mitbringsel überreicht. Tobias kommt aus der Küche, in der Hand ein Tablett mit gefüllten Champagnerflöten, sie stoßen mit ihren Gästen an, dann fordert Tobias dazu auf, ihm ins Wohnzimmer - er nennt es »den Salon« - zu folgen.
Als alle sitzen, nimmt Eva am Flügel Platz. Etwas unsicher beginnt sie mit einer Nocturne von Chopin. Die ersten Takte, einfache Akkorde, geben ihr Sicherheit. Vor Wochen noch hat sie die Triller der abwärtsperlenden Läufe nicht beherrscht, jetzt gelingt es ihr beinahe fehlerfrei.
»Bravo!«, ruft Tobias, als sie nach der Nocturne eine Pause macht.
»Wunderbar, Schatz!«, stimmt ihre Mutter zu, wohlwollender Beifall erklingt. So spielt Eva weiter, Stück für Stück, manchmal singt sie dazu, die Musik trägt sie davon. Hin und wieder blickt sie in ihr kleines Publikum, die Zuhörer lauschen konzentriert, auf den Gesichtern ihrer Eltern zeichnet sich ein stolzes Lächeln
ab. Sie können zufrieden sein, ja, sie alle können sehr zufrieden sein, diese unschöne Geschichte hat letztlich doch noch zu einem guten Ende geführt.
Beschwingt lässt Eva ihre Finger über die Tasten fliegen und beginnt das letzte Stück. Lascia ch’io pianga von Händel, die Arie, die für sie früher voller Schwierigkeiten steckte, aber die sie nun als glanzvollen Höhepunkt des Abends singen wird.
Die Gäste sind mucksmäuschenstill, hören ihr gebannt zu. Und auch Eva ist ergriffen, spürt die Tränen, die über ihre Wangen laufen. Nicht vor Traurigkeit, vor Freude, es ist die reinste, pure Freude, die sie jetzt in sich spürt.
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzen Bilder in ihrem Kopf auf, Bilder, die sie daran erinnern, was alles passiert ist in den vergangenen Jahren. Marlenes Beerdigung, die Geburt von Lukas, ein weiteres Begräbnis, sie, Eva, beim Tätowierer, im Bett mit Simon … Sie versucht, sich wieder auf den Gesang zu konzentrieren, singt lauter, um die Erinnerungen zu vertreiben. Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr . Loslassen, sie muss das, was gewesen ist, ein für alle Mal loslassen, auch wenn es hin und wieder Schatten geben wird, die versuchen, sie einzuholen. Das ist nicht schlimm, hat Rolf gesagt, mit der Zeit werden sie weniger werden. Der Zukunft gilt nun ihre Aufmerksamkeit, den Blick immer schön nach vorne richten, nie zurück.
Eva wendet ihre Aufmerksamkeit jetzt Gabriele zu, die zwischen ihrem Mann Klaus und Evas Mutter sitzt. Auch sie lauscht konzentriert. Ihre Freundin, das ist sie
tatsächlich. In den letzten Wochen hat sie Eva oft zu Hause besucht, hat ihr aktuelle Neuerscheinungen und die neuen Verlagsprogramme mitgebracht, damit Eva den »Anschluss« nicht verliert und die
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