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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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jahrhundertealten Pilgerfahrten, alles würde hinter ihm zerbröckeln, sich auflösen, in dem Augenblick, in dem er seine ersten Bilder schießen würde. Er versuchte, das Arno zu erklären, und hatte das Gefühl, daß der ihn verstand. »Du bist hier, und du bist nicht hier«, sagte er, »aber das paßt eigentlich doch ganz gut zu dem Ort, wo du hinfährst. Den Buddhisten zufolge ist alles Illusion, warum sollte ich also nicht zwanzig Minuten lang mit einer Illusion reden? Danach kann ich mir überlegen, ob du wirklich hier warst. Ich beneide dich, ich würde mich da gerne mal umschauen. Einige dieser Sekten haben nicht nur immer darauf beharrt, daß die sichtbare Wirklichkeit eine Illusion ist, sondern dazu auch noch wunderbar gesungen mit diesen donnernden Trommelschlägen und tiefen Brummstimmen, sehr dramatisch. Sie haben nie behauptet, daß Galilei unrecht hatte, warum sollten sie? Inzwischen sind wir nach einer endlosen Suche dahintergekommen, daß alles, was wir für solide Wirklichkeit halten, in etwa leerer Raum ist, und daß wir eine Brille bräuchten, die größer ist als alles, was wir uns vorstellen können, um wahrzunehmen, wie unsichtbar und unvorhersehbar die Teilchen sind, aus denen die sogenannte Materie besteht! Sie hatten recht! Wir sind durchsichtig! Obwohl wir doch so kompakt aussehen! Ha! Jetzt, wo wir endlich wissen, aus wieviel Schein die Welt besteht, müßten wir daraus natürlich unsere Religion machen, doch das haben sie schon getan. Wir sind fast nicht da, wir dürfen keinen Namen haben. Hast du darüber mal nachgedacht? Wenn wir keine Namen hätten, wäre alles viel klarer. Einfach ein wenig flüchtige Materie mit ein bißchen Bewußtsein, Erscheinungen, die kommen und ziemlich schnell wieder verschwinden. Aufgrund der Namen glauben wir, wir stellten einiges dar, vielleicht glauben wir sogar, daß sie uns beschützen, aber wer weiß noch die Namen von all den Milliarden, die bereits verschwunden sind?
    Ehrlich gesagt, erschüttert mich meistens alles, was ich lese, aber ich versuche, nichts dabei zu empfinden, das hat schließlich keinen Sinn. Ich halte mich an die Tatsachen, wie ich sie wahrnehme, sonst werde ich verrückt. Ich heiße Arno Tieck, auch wenn das nichts besagt, und ich sitze in der Wirklichkeit, wie ich hier auf diesem Stuhl sitze. Die Welt, wie sie der Wissenschaft zufolge zu sein scheint, wird immer weiter demontiert, damit kann man natürlich nicht leben. Wir müssen schließlich auch noch einfach ein bißchen sein. Aber hin und wieder, wenn jemand wieder einmal zu tief in die Natur hineingeschaut hat, dann wird mir schwindlig. Noch mehr Nullen, noch mehr davonfliegende Milchstraßensysteme, noch mehr Lichtjahre, und andererseits dieser andere Abgrund, der Abgrund der kleinen Dinge, Superstrings, Antimaterie, die Wirklichkeit feingeraspelt, Atome, die ihren eigenen Namen Lügen strafen, bis nichts mehr zu sehen ist und doch etwas da ist, und wir, die wir uns selbst weiterhin Namen geben, als hätten wir die Sache noch in der Hand! Da hatte Nietzsche dann doch jedenfalls recht: daß wir all diesen Rätseln mit Scheu begegnen müßten, hinter denen sich die Natur verbirgt. Aber nein, wir tun genau das Gegenteil, wir gehen ihr bis in die entferntesten Höhlen des Universums nach, wir entkleiden sie immer weiter, bis nichts mehr zu sehen ist und wir selber in ihren Geheimnissen verschwinden, weil wir ihr mit unserem erbärmlichen Bewußtsein nicht beikommen! Aber, lieber Freund, wenn es mir zu bunt wird, wenn mir die Wogen zu hoch schlagen, habe ich immer noch das hier. Erinnerst du dich noch an mein Frauenkloster? Hildegard von Bingen? Wenn das gesamte Universum eine Frage ist, dann ist die Mystik auch eine Antwort, und ihre Musik ist gesungene Mystik. Unter allen Antworten, die nie die ganze Antwort sind, wähle ich die der Kunst. Wenn du demnächst irgendwo in Japan bist und von den düsteren Männertönen genug hast, dann hör sie dir an. Gewißheit gegen Gewißheit, die Gewißheit des Nichts, des Individuums, das sich im Nirwana aufgelöst hat, gegen die Gewißheit der Seele, die bis in alle Ewigkeit neben Gott sitzt und in der Harmonie der Sphären mitsummt, heilige Bässe gegen heilige Soprane! Gib zu, das ist phantastisch: Welches Schreckensbild, welchen Abgrund oder welche Erlösung, welche Ekstase du den Menschen auch bietest, sie machen Musik daraus. Vor tausend Jahren sangen die Planeten noch in Harmonie das Lob Gottes, das haben sie offenbar eingestellt,

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