Allerseelen
ausschließlich, indem ihr denkt. Ewigkeit, Gott, Geschichte, das alles sind eure Erfindungen, es ist so viel, daß ihr euch darin verirrt habt. Alles ist echt und zugleich Illusion, damit läßt sich tatsächlich schwer leben. Und als wäre das noch nicht genug, habt ihr auch noch diese sich fortwährend verändernde Vergangenheit, mit der die Gegenwart euch belästigt. Helden, die eine Generation später schon wieder Verbrecher sind, solche Dinge, als explodierte die Zeit hinter euch in einem fort. Ihr müßt euch gegen den Strom der Zeit stemmen, um etwas mehr zu erfahren, und gleichzeitig müßt ihr voran. Daher kommt ihr auch nie irgendwo an. Und wer wir sind? Sagen wir vielleicht, der Chor. Irgendeine registrierende Instanz, die etwas weiter schauen kann als ihr, allerdings ohne Macht zu besitzen, auch wenn es vielleicht so ist, daß das, was wir verfolgen, erst durch unser Hinschauen entsteht. Da, jetzt ist er beim Richard-Wagner-Platz, bei der U-Bahn-Station, an der er vor wenigen Stunden die alte Frau abgesetzt hat. Sie ist inzwischen tot, und dem Neger geht es auch nicht gut. Der Mann, der da hinter dem Schneeräumgerät hergeht, weiß das nicht. Das gehört zu euren Begrenzungen, und vielleicht ist es auch besser so.
*
* *
In dem Augenblick, in dem Arthur Daane die Treppen zur Unterwelt hinunterstieg, hörte er draußen die Sirene eines Krankenwagens, die reinste Fanfare. Unten war es fast behaglich, er liebte das Halbdunkel der U-Bahn, die Züge, die wie ein rollender Donner heransausten und kalten Wind vor sich herjagten. Am liebsten aber war ihm die anonyme Gemeinschaft, die Blicke, mit denen die Leute sich gegenseitig musterten, der defensive Raum, den jeder um sich herum schaffen wollte, um sich dann aus dieser Verschanzung heraus an die Erkundung, Katalogisierung und Verurteilung zu machen. Die heimlichen Mitleser, die geilen Typen, die andere mit ihren Blicken auszogen, der Rassist, der autistische Hundekopf mit seinem Walkman, dessen Peitschenschläge bis in den entferntesten Winkel zu hören waren … Sofern man nur lange genug sitzen blieb, trat jeder mal auf.
»Meine Familie«, hatte er zu Erna gesagt, als sie ihn in Berlin besuchte.
»Jetzt wirst du aber sehr pathetisch.« Erna sagte immer, was sie dachte.
»Soll ich dir einen Vater und eine Mutter aussuchen?«
»Nein, laß nur.«
Seit dieser Zeit schaute er immer, ob ein Vater oder eine Mutter dabei war. So hatte er schon mal einen türkischen Vater gehabt, eine angolanische Schwester, eine chinesische Mutter, und dann natürlich unzählige deutsche Familienangehörige.
»Und Freundinnen?«
»Ja, aber dann wird es echt.«
»Und nach welchen Kriterien gehst du vor?«
»Mein letzter Bruder las eine Novelle von E. T. A. Hoffmann, meine letzte Mutter kam aus Ostberlin.«
»Die hat doch bestimmt auch gelesen?«
»Nein, sie weinte und versuchte, das so zu tun, daß wir es nicht sahen.«
Diesmal waren keine Väter dabei. Er stieg an der Station Bismarckstraße um. Eigentlich hatte er ins Historische Museum gehen wollen, aber zwei Museen an einem Tag waren zuviel des Guten. Und außerdem war ganz Berlin ein historisches Museum. Nein, er würde ins »Einstein« gehen und einen Glühwein trinken. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie durchfroren er mittlerweile war.
Im »Einstein« waren die Deutschen zu Europäern geworden. Dieser Raum ließ sich jederzeit gegen ein Café an der Place St. Michel oder gegen das »Luxembourg« in Amsterdam austauschen. Die Leute, die dort saßen, sahen aus wie Reklamefiguren, genau wie er selbst. Vielleicht hatten auch sie Familienangehörige in der U-Bahn, wer weiß. Schließlich säßen sie hier sonst nicht. Große blonde Mädchen bedienten, mit Schürzen, die fast zum Boden reichten. Zeitungen voll Welt, an langen Stöcken. Le Monde , der Corriere della Sera , die Taz . Gleichzeitig mit seiner griff eine andere Hand nach El País , doch seine war schneller. Er war schneller, und sie war wütend, das war nicht zu übersehen. Funkelaugen. Berberkopf. Daß er das gedacht hatte, wußte er später nur noch, weil dieser Gedanke so geheimnisvoll richtig gewesen war. Er hielt ihr die Zeitung hin, doch sie schüttelte den Kopf. Es ging also nicht um die Zeitung, sondern um den Moment des Zuspätkommens, des Verlierens. Sie nahm Le Monde und verschwand um die Ecke der Bar. Er selbst fand einen Platz am Fenster. Es war noch nicht einmal vier und schon fast Nacht. »Das Volk, das im Finstern wandelt.« Wo kam das her?
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