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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Victor.
    »Langweilig, nicht?«
    Noch einmal starrte er auf die Abtei. Ein Stück einer Mauer stand noch, mit einem hohen gotischen Fenster, durch das ein Licht schien, das nicht von dem kleinen Mond herrühren konnte. Ruinen, umgefallene Grabsteine, kahle, bizarre Bäume wie Gespenster, metaphysisches Licht, ein Kreuz, das schief auf einem Grab stand, es stimmte alles. Öde, Finsternis, das Jagdrevier der germanischen Seele, die nun endlich, am Ende dieses wahnwitzigen Jahrhunderts, am Ende der Jagd angelangt war. Ob das nun von der neuen Klarheit des Denkens, der Ernüchterung der Niederlage, der doppelten Strafe der Teilung kam oder ganz einfach, wie anderswo auch, letztendlich vom Triumph des Geldes, wußte er nicht.
    Die Gemälde in den folgenden Sälen waren von unaussprechlicher Biederkeit. Kupferne Sonnenuntergänge, gefahrlose Wälder, rauschende Wasserfälle, unschuldige Frauen, Hunde, die ihre Herren liebten, die Welt ohne Erbsünde. Das mußte er Friedrich lassen: Er hatte zumindest eine Ahnung gehabt. In diesem Sinne hatte Victor dann vielleicht doch recht. Kunst ohne Vorahnung ist nichts. Ob es einem nun auf diese Weise eingehämmert werden mußte, war eine andere Frage, aber es gab so etwas wie die Mächte der Finsternis.
    »Und dann schafft man es mit Ironie allein vielleicht auch nicht.« Nein, das war nicht Victor, der das sagte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Halb drei. Ohne eine Idee zu haben, was er jetzt tun würde, ging er zur Garderobe. In den Fenstern auf der Südseite sah er schon wieder ein großes Schneeräumgerät vorbeifahren. Das orangefarbene Blinklicht schien die heftig dahinjagenden Flocken in Brand setzen zu wollen.
    Thomas. Es gab keinerlei Schutz vor den Toten, mochten sie noch so klein sein. Das erste Mal, als er Schnee gesehen hatte. Noch nicht einmal drei mochte er da gewesen sein. Sie hatten ihn geweckt und waren mit ihm in den Garten gegangen, um ihm das Wunder zu zeigen. Doch er hatte geschrien und geweint und das Gesicht an Roelfjes Haut gedrückt. Arthur wußte noch genau, daß er gerufen hatte: »Darf nicht, darf nicht!« Es war so lange her, und doch konnte er sie noch hören, diese hohen, schrillen Laute. Das wunderte ihn. Wie ist es möglich, daß Gesichter langsam verschwinden, sich zurückziehen, nicht mehr gesehen werden wollen, und daß ein einziger Satz all diese Jahre hindurch als Geräusch unversehrt erhalten bleibt?
    Hinaus, aber schnell. Der Schnee flog ihm entgegen, in die Haare, in die Augenwinkel. Er wischte die nassen Kristalle weg und schaute nach oben. Das mußte sein. Victor hatte seine gemalten Mätressen, er seinen goldenen Engel. Dort tanzte die Engelsgestalt, hoch über der Kuppel auf der Weltkugel, kalt, die nackten goldenen Brüste vom Schnee gegeißelt. Vielleicht konnte sie ihre Schwester sehen, den Friedensengel auf dem großen Stern, ebenfalls aus Gold. Frauen, die etwas verkörpern sollten, sei es nun den Frieden oder den Sieg, wurden immer so hoch und so weit entfernt wie möglich weggestellt.
    *
    * *

Was uns immer wieder wundert, ist, daß ihr euch so wenig wundert. Wir sind nur die Begleitung, doch wenn wir selbst richtig leben dürften, würden wir uns mehr Zeit für die Meditation nehmen. Eines der Dinge, die wir nicht verstehen können, ist, wie schlecht ihr in euer eigenes Dasein paßt, ohne daß ihr darüber nachdenkt. Und daß ihr euch so wenig klarmacht, über welch unendliche Möglichkeiten ihr verfügt. Nein, keine Sorge, wir werden diese Geschichte nicht zu oft unterbrechen. Vier-, fünfmal höchstens, und immer sehr kurz. Laßt uns nur. Wir können ihm währenddessen sehr gut folgen. Busse fahren noch immer nicht. Er hat nun gerade gesehen, daß wieder ein Schneeräumgerät auf dem Spandauer Damm angefahren kommt. Es macht alles schön frei, ihm folgt er jetzt, als fegten Diener den Weg vor ihm. Der aufgehäufte Schnee bildet links und rechts eine Wand neben ihm, er geht in einem weißen Laufgraben. Was wir aber meinten, ist folgendes: Ihr seid zwar sterblich, doch die Tatsache, daß ihr mit diesem einen winzigen Hirn über die Ewigkeit nachdenken könnt oder über die Vergangenheit und daß ihr dadurch, mit dem begrenzten Raum und der begrenzten Zeit, die euch gegeben ist, so unermeßlich viel Raum und Zeit einnehmen könnt, darin besteht das Rätsel. Stück um Stück kolonisiert ihr, zumindest sofern ihr es wollt, Epochen und Erdteile. Ihr seid die einzigen Wesen im gesamten Universum, die dazu in der Lage sind, und das

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