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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Waren das die Ungläubigen? Warum war Arno nicht da, der wußte immer alles. Notieren, heute abend fragen. Doch er vergaß es auf der Stelle. Dieses Gesicht, das ihn so wütend angesehen hatte, was für ein Gesicht war das? Eine Narbe am rechten Wangenknochen. An der Hand war übrigens auch eine Narbe gewesen, in diesem merkwürdigen weichen Teil, in dem es keinen Knochen gibt, zwischen Zeigefinger und Daumen. Das Füllfederbett, hatte Victor das mal genannt. Sie hatte die Hand ausgestreckt und dadurch die Narbe gedehnt, glänzend, eine andere, hellere Haut. Die Narbe im Gesicht war grausamer, jemand hatte seinen Finger fest auf den Wangenknochen gepreßt, um sein oder ihr Signum hineinzudrücken. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr die Zeitung bringen sollte, aber das war Unsinn. Wenn sie nicht so wütend geschaut hätte, würde sie jetzt El País lesen anstatt Le Monde . Das Land oder die Welt, spanisch oder französisch. Auf alle Fälle nicht deutsch, nicht mit diesem Gesicht. Jemand, der es nicht ertragen konnte zu verlieren. So, und jetzt vergessen, Zeitung lesen. Skandale, Korruption, González, ETA, er war mit den Gedanken nicht bei der Sache. Ob sie Spanierin war? Sie sah nicht so aus, aber das hieß nichts. Jedenfalls keine Reklamefigur, Reklamefiguren haben keine Narben. Heutzutage sah die Hälfte der Menschheit nicht aus, wie sie auszusehen hatte. Juden sahen aus wie Germanen, Niederländer wie Amerikaner, ganz zu schweigen von Spanien mit seinen Kelten, Juden, Mauren. Mauren? Berberkopf war immerhin sein erster Gedanke gewesen. Aber jetzt mußte er sich wirklich auf die Zeitung konzentrieren. Länder waren Gesellschaftsspiele, wenn man die Regeln kannte, konnte man vom Rand aus mitspielen. Die Regeln, die für Deutschland galten, versuchte er noch zu lernen, die für Spanien waren ihm bekannt. Nie gut genug, aber immerhin. Man kannte sie zumindest ein wenig, wenn man genau wußte, wie eine Zeitung aufgebaut war, oder wenn man die Nuancen der neuesten Korruptionsskandale erfassen konnte, und die waren in Spanien mittlerweile von byzantinischer Komplexität. Generäle, die Geld mit dem Drogenhandel verdienten, der geflüchtete oberste Chef der Guardia Civil, der mit falschen Papieren aus Laos zurückgeholt wurde, Minister, die Mordkommandos über die Grenze geschickt hatten, Chefredakteure, die in der Fallgrube ihrer absonderlichen Lüste gefilmt worden waren, und ansonsten nur Geld, schnödes, stinkendes Geld überall, eine Schicht Scheiße aus Lügen und Eigennutz, über die sich im übrigen niemand zu wundern schien. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb er Spanien liebte: weil dieser ganze Wahnsinn zum alltäglichen Leben zu gehören schien. War natürlich Quatsch, aber trotzdem. Irgendwann, mit Anfang Zwanzig, hatte er dort als junger Kameramann ein paar touristische Reportagen gemacht. Das Übliche, die Semana Santa in Sevilla, die Costa Brava, alles, wo Millionen von Niederländern hinfuhren, Torremolinos, Marbella. Durch diese Reisen hatte er einen kurzen Blick auf das erhascht, was ihn wirklich interessierte, Städte, die sich ein hochmütiges eigenes Dasein bewahrt hatten, das nichts mit dem Ausverkauf im restlichen Land zu tun hatte, steinerne Inseln in den trockenen, harten Ebenen Kastiliens und der Estremadura, es hatte ihn fasziniert, als sei dort etwas erhalten geblieben, das zu seinem eigenen Wesen gehörte und das er erst jetzt entdeckte. Danach hatte er um jeden Preis die Sprache erlernen wollen und jeden Auftrag angenommen, der ihn wieder dorthin führte. Vor einigen Jahren hatte er eine kleine Wohnung an der Plaza Manuel Becerra, im heruntergekommenen Teil Madrids, gemietet, eine Etage, die er sich mit Daniel García teilte, was ihnen beiden gut paßte, weil Daniel, ein Filmer aus Nicaragua, der in Angola schwer verletzt worden war und nach jahrelanger Rehabilitation wieder als Fotograf zu arbeiten begonnen hatte, auch regelmäßig nach Amsterdam und Berlin mußte. Arthur benutzte Madrid als Ausgangspunkt, um das Land zu bereisen. Er hatte beim WDR ein Projekt eingereicht, für das er Arno Tieck vorgeschlagen hatte: Klöster in Spanien. Dieser Plan lag dort nun schon seit einem Jahr, allmählich war es hier genauso wie in den Niederlanden. Alles, was schwierig erschien und länger als zwanzig Minuten dauern sollte, war suspekt. Kein Geld, kein Interesse. »Wen interessiert so was denn schon? Heutzutage gehen keine zwanzig Prozent aller Leute mehr in die Kirche, und wieviel sind

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