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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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davon noch katholisch? Und dann … Klöster? Wenn du wenigstens was über Zenklöster hättest machen wollen …«
    Er stand auf, um zur Toilette zu gehen, und machte einen Umweg an der Bar vorbei. Sie saß noch da, der Inbegriff an Konzentration. Jetzt sah er, wie blaß ihre Haut war. Sie hatte die Zeitung genau vor sich auf dem Tisch, beide Hände in Höhe der Ohren, die Fäuste geballt in dem kurzen schwarzen Haar, das wie Draht in die Höhe stand. Es mußte sich hart anfühlen, wenn man es berührte. Als er auf dem Rückweg wieder an ihr vorbeiging, hatte sie sich nicht bewegt.
    Er fragte sich, ob sie ihn wohl für einen Spanier gehalten hatte. Eigentlich wäre es naheliegend gewesen, daß einer von ihnen etwas gesagt hätte. Schließlich waren sie Landsleute in der Fremde, und dazu noch in einer Stadt, die durch den Schnee wie eingeschlossen wirkte. Aber wenn er kein Spanier war, brauchte sie schließlich auch keine Spanierin zu sein. Und außerdem hatte er das nie gekonnt, fremde Menschen anquatschen.
    »Keine Menschen, Arthur, Frauen.« Das war Erna, so sicher wie das Amen in der Kirche.
    »Aber ich kann es nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich stelle mir immer vor, daß ich diese Frau bin und daß da plötzlich so ein Trumm von Mann auf dich zukommt und dir irgend ’nen Stuß erzählt, obwohl es ihm eigentlich nur ums Vögeln geht.«
    »Wenn es so ist, dann hast du recht.«
    »Und wenn es nicht so ist?«
    »Dann merkt sie das schon. Das hängt dann davon ab, was du sagst.«
    »Ich bin einfach zu schüchtern.«
    »Okay, nennen wir’s so. Dreht überall auf der Welt und ist zu schüchtern, eine Frau anzusprechen. Du hast einfach zuviel Angst, dich lächerlich zu machen. Pure Eitelkeit. Aber dadurch verpaßt du eine Menge.«
    »Schon möglich.«
    Er blätterte die Zeitung durch. Bei einem Artikel über die ETA stand ein Foto, das er schon einmal gesehen hatte. Ein ausgebranntes Auto, eine Leiche, die über dem Vordersitz hing, den Kopf rückwärts nach unten, zur Straße. Durch das Schwarzweiß des Fotos war die Blutlache auf dem Bürgersteig zu Teer geworden. Das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes, den Mund über dem makellosen Schnurrbart leicht geöffnet. Den Schnurrbart hatte er an diesem Morgen erst nachgeschnitten. Ein Armeeoffizier an seinem freien Tag. Doch die ETA hatte nie einen freien Tag, wer in diesem Gebiet wohnte, über dem schwebte ständig das Schicksal. Der soundsovielte Tote dieses Jahres, wieder einer für das große Buch, er konnte mühelos zu all den anderen hinzugezählt werden und in der Abstraktion des Buches als Teil eines Ganzen verschwinden. In einem noch späteren Buch bildeten sie dann alle zusammen vielleicht eine Zeile. Er sah sich die Gesichter der Umstehenden an. Sie wußten genau, wie sie auf einem solchen Foto auszusehen hatten, ein Regisseur war dabeigewesen. Die Dame hier ein wenig nach rechts, das Kind, das am Mantel seines Vaters mit einer Hand zieht, die fast eine Klaue geworden ist, einen kleinen Schritt nach vorn, und auf all diesen Gesichtern Entsetzen, Wut, Trauer, Kummer, Ohnmacht. Die Maschine der Geschichte lief mit dem Blut und dem Leiden von Menschenfleisch, auf diesem spanischen Foto nicht anders als in der Stadt, in der er sich jetzt befand. Er sah hinaus. Es hatte für kurze Zeit aufgehört zu schneien. Niemand würde jetzt filmen, für ihn natürlich gerade ein Grund, es zu tun. Wenn er jetzt schnell nach Hause ginge, um seine Kamera zu holen, dann konnte er noch ein paar Einstellungen bei den Baugruben am Potsdamer Platz drehen. An der Filmakademie, vor langer Zeit, hatten sie ihn erst ausgelacht, wenn er mit solchen Bildern ankam, und es ihm danach rundweg verboten. (»Film ist dazu gedacht, gesehen zu werden, Daane. Wenn du vorhast, dich aufs Halbdunkel zu spezialisieren – bitte sehr, aber hier brauchst du mit so was nicht anzukommen und später beim Fernsehen schon gar nicht.«) Das stimmte, mit Ausnahme von einigen wenigen Malen, und um die ging es. Anfangs hatte er sich noch gewehrt. (»Wenn man es aus diesem Grund nicht macht, schließt man einen wesentlichen Teil des Tages aus.« »Kann schon sein, Daane, aber es gibt technische Mittel, um diesen Teil des Tages zu zeigen oder zu suggerieren, und die willst du nicht nutzen. Du setzt dich doch auch nicht im Dunkeln hin, um zu lesen, oder?«)
    Aber Filmen war nicht Lesen, und so waren diese Stunden zwischen Nacht und Tag und dann wieder diese so anderen zwischen Tag und Nacht seine Spezialität

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