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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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flüsternd, murmelnd zwischen den neu geprägten Worten der Passanten, ein Rauschen für die feinsten, empfindlichsten Ohren, solchen, wie sie ein Lebender nicht haben sollte, weil Städte so nicht zu ertragen waren, und diese Stadt schon gar nicht.
    Er begann zu pfeifen, um das Summen in sich zu übertönen.
    »Sie haben ja gute Laune«, sagte ein alter Herr, der einen Hund, groß wie ein Kalb, hinter sich herschleifte, und plötzlich beschloß Arthur, daß es so war. Gute Laune, gute Laune, er beschleunigte seine Schritte und hörte, noch im Fallen, den alten Mann rufen, »Achtung, passen Sie auf! Es ist glatt!«, aber da war er schon gefallen, zum zweiten Mal an diesem Tag, zu Boden gegangen in einer gebrochenen Pirouette, die Kamera wie ein Baby mit den Armen umklammernd, die Äste mit dem gefrorenen Schnee genau über sich, der eisblaue Himmel geborsten. Jemand wollte ihm ein Zeichen geben. Der alte Herr war besorgt näher gekommen, und weil er für einen Moment liegengeblieben war, hing plötzlich der riesige Hundekopf über ihm, große nasse Augen, deren Tränen weiter unten glänzend gefroren waren.
    »Ich sagte noch, passen Sie auf!« sagte der Alte vorwurfsvoll.
    Arthur stand auf und klopfte sich ab.
    »Keine Sorge, ich kann wunderbar fallen.«
    Das stimmte. Irgendwann hatte er einen Fallkurs absolviert. Das hatte ein Kriegsberichterstatter ihm einmal geraten, und er hatte es nie bereut.
    »Es gibt eine Menge Länder auf der Welt, in denen du in der Lage sein mußt, deine senkrechte Position von einer Sekunde zur anderen aufzugeben«, hatte der Mann gesagt. »Nichts ist schöner als das Pfeifen von Kugeln durch den Raum, den dein Körper noch vor einem halben Gedanken eingenommen hat.« Wie wahr das war, hatte er zweimal erlebt, einmal in Somalia, einmal beim Karneval in Rio. Plötzlich Schüsse, ein bizarrer Seufzer fallender Körper, und als alle wieder standen, waren drei liegengeblieben, die nie mehr aufstehen sollten. Den Abschluß seines Kurses hatte ein Sturz von einer hohen Treppe gebildet. Der Lehrer, ein ehemaliger Fallschirmspringer, machte eine Wahnsinnsshow daraus, polternd und rumpelnd war sein wehrloser Körper die Treppe hinuntergeknallt und für einen Moment ganz still liegengeblieben, so daß alle vor Schreck leichenblaß wurden. Dann war er aufgestanden, hatte sich die Kleider abgeklopft und gesagt: »Diese Mimikry kann euch noch mal von Nutzen sein, Scheintod ist die schönste Überraschung.«
    Sie haben ja gute Laune, Scheintod ist die schönste Überraschung, nein, diesen Tag ließ er sich nicht mehr nehmen. Er würde jetzt zum Alexanderplatz gehen, erst am Roten Rathaus seine Hand auf das Knie des jetzt so verwaisten Karl Marx legen, dann Füße filmen auf den Treppen der U-Bahn. Er grüßte den alten Herrn, streichelte dem Hund über den mächtigen Kopf und ging, jetzt etwas vorsichtiger, Richtung Osten.
    Zwei Stunden später hatte er alles erledigt, was er sich vorgenommen hatte. Marx und Engels starrten noch immer in den Fernen Osten und taten so, als sähen sie die Geschwulst am Fernsehturm nicht, aber Marx hatte einen kleinen Schneemann auf dem Schoß, der ihn plötzlich sehr menschlich machte, ein Großvater aus dem neunzehnten Jahrhundert, der vergessen hat, seinen Wintermantel anzuziehen. Bei den Füßen in der U-Bahn war es ihm diesmal eigentlich nicht um das Bild gegangen als vielmehr um den Ton, dieses unaufhörliche Schlurfen und Scharren, auf den oberen Stufen noch satt schmatzend vom nassen Schnee, weiter unten dann trockener, aber weniger laut, als er gehofft hatte. Stiefel waren infolge einer plötzlichen Epidemie so gut wie ausgestorben, und richtige Schuhe schien fast niemand mehr zu tragen, Freizeitschuhe waren es jetzt, in viel zu hellen Farben unter den tristen Kleidern. Eine Tretmühle, die die Welt mit Füßen trat, Menschen in der Großstadt wurden erst richtig eigenartig, wenn man nur ihre Füße filmte, das Räderwerk einer gesichtslosen Fabrik, die nie stillstand, von der jedoch niemand wußte, was sie produzierte.
    »An deinen Füßen hätten sie bei deiner Geburt so ein kleines Maschinchen montieren müssen.« Erna. »Dann hättest du wenigstens gewußt, wieviel Kilometer du in deinem Leben zurückgelegt hast. Ich glaube, ich kenne niemand, der so viel zu Fuß geht wie du.«
    »Ich bin ein Pilger.«
    »Dann ist jeder ein Pilger.«
    Und so war es natürlich auch. Er blickte auf die Schlange der Füße, die an ihm vorbeizogen, und achtete nicht darauf, ob

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