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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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beeil dich, wenn Vera nach Hause kommt, ist es aus und vorbei. Sie ist der Ansicht, daß ich tagsüber denken muß. Erinnerst du dich noch daran, als Victor eine Flasche Williams Christ spendierte?«
    Daran erinnerte er sich noch sehr gut. Ein später Nachmittag in Victors Atelier. Das Kunsthaus in Zürich hatte eine von Victors Plastiken angekauft, das mußte gefeiert werden.
    »Meine Herren, die Birne muß aus der Flasche raus!« Nach dem zweiten Glas tauchte der Stiel auf und dazu das metaphysische Problem, wie die Birne in die Flasche gelangt war, und danach das viel größere Problem, wie man sie unversehrt wieder herausbekam. Victor behauptete, er habe ganze Obstgärten voller Flaschen an Schweizer Berghängen gesehen, »in der Sonne funkelnd«. Diese Mitteilung wurde von den beiden anderen beiseite gefegt. Sie kamen mit weit einfallsreicheren Lösungen, die um so unwahrscheinlicher klangen, je weiter die Birne in ihrer vollen Größe aus dem Alkohol ragte, bis sie zu guter Letzt ein wenig kläglich, aber dennoch herausfordernd auf dem Grund der leeren Flasche lag.
    »Und jetzt?« hatte Victor gesagt und die Flasche auf den Kopf gestellt, wodurch die Birne nach unten fiel und im Hals steckenblieb, eine Position, aus der man sie unmöglich herausbekommen konnte.
    »Unterschätze mir den Handwerker nicht«, sagte Victor, »aber erst müssen wir losen, nein, würfeln: Wer die höchste Zahl hat, darf die Birne essen.«
    Mit großem Ernst hatten sie gewürfelt. »You see, I do play dice«, hatte Arno mit Einsteins Akzent gesagt, und Arthur hatte gewonnen, woraufhin Victor aus dem Raum verschwunden und mit einem nassen Frotteetuch und einem Hammer zurückgekehrt war. Er wickelte die Flasche in das Handtuch.
    »Arthur, hier, nimm den Hammer, hau einmal fest drauf, und es geschieht ein Wunder.«
    Das hatte er getan und dann auf Victors Anweisung das Handtuch ganz langsam und vorsichtig aufgerollt, wobei die Flasche – mit intakter Birne – zum Schluß wie eine zersplitterte Autoscheibe vor ihnen lag.
    »Erinnerst du dich an Toon Hermans«, sagte Victor, »diese Geschichte mit dem Pfirsich?« Und er machte Arno vor, wie der niederländische Komiker auf unnachahmliche Weise einen nicht existierenden Pfirsich gegessen hatte, wobei ihm der Saft über das Kinn lief. Die beiden anderen sahen jetzt neidisch zu, wie Arthur die Birne feierlich hochhob und an seinen Mund führte. »Ah, dieser himmlische Birnensaft«, sagte Victor noch, doch eine Sekunde später hatte sich Arthurs Miene in eine Grimasse verwandelt, seine Zähne blieben in der kalten, völlig unreifen Birne stecken, die ihn zu beißen schien statt umgekehrt.
    »Da schmeckt das hier besser«, sagte Arno jetzt und hob das Weinglas.
    »Ich muß noch zu Zenobia.«
    »Ach, Zenobia. Wer mit einem Zwilling verheiratet ist, hat zwei Frauen. Und dann noch russische Frauen, und dann noch Kunst und Wissenschaft! Arthur, wenn’s mit dieser spanischen Oranje nichts wird, dann suchen wir dir einen Zwilling in Rußland. Ich mache eine Sendung über Schestow, und du kommst mit als Kameramann. Kennst du Schestow?«
    »Keine Ahnung.«
    »Ah, Schestow! Spekulation und Offenbarung! Verkannt, verkannt …«
    »Arno, nicht jetzt.«
    »Okay, Entschuldigung.«
    Sie saßen da und schwiegen. Der Wein schien zu der Musik zu passen, die Frauenstimmen umschwebten sie, sie brauchten nichts mehr zu sagen. Arthur wußte, daß der Tag für ihn auf diese Weise weiter zerfließen würde und daß daran nichts mehr zu ändern war. Und dann dachte er, daß er Erna zurückrufen müßte und Zenobia vielleicht sagen müßte, daß er nicht käme, und dann dachte er vielleicht gar nichts mehr, und plötzlich hörte er, wie Arno sein gregorianisches Gesumme unterbrach und fragte: »Wie, glaubst du, macht man die Menschen, die man im Traum sieht? Ich meine nicht die Leute, die man kennt, sondern die, von denen man sicher ist, daß man sie noch nie gesehen hat. Wie machen wir die? Sie müssen doch irgendwie fabriziert werden. Wie machen wir das? Sie haben richtige Gesichter, und dabei existieren sie gar nicht.«
    »Eigentlich ist das unangenehm«, sagte Arthur.
    »Vielleicht ist ihnen das selbst auch unangenehm«, sann Arno laut weiter.
    »Stell dir vor, du existierst nicht, und auf einmal mußt du im Traum eines Wildfremden antanzen. Eigentlich ist das eine Form von Arbeit …«
    In dem Moment klingelte das Telefon, in diesem Fall ein weinerliches, ersticktes Geräusch.
    »Wo hab ich das Ding bloß wieder

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