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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hingelegt? Oder ist es deins?«
    »Das Geräusch kommt aus deinem Körper«, sagte Arthur, »schau doch mal in deiner Innentasche nach.«
    »Ja, das bin ich«, sagte Arno zu dem Apparat, »aber wer sind Sie?«
    …
    »Oh, was für ein Zufall … nein, nein, natürlich kein Zufall, haha. Ja …«
    Die Stimme am anderen Ende nahm sich jetzt Zeit, etwas zu erklären.
    »Ja, ich denke schon, daß ich das darf«, sagte Arno. »Sesenheimerstraße 33. Ja, nichts zu danken. Ich hoffe, wir sehen uns noch mal? Wie sind Sie eigentlich an meine Nummer gekommen? Ach, ja natürlich, ich steh im Telefonbuch. So viele Tiecks gibt’s nun auch wieder nicht. Auf Wiederhören.«
    »Das war meine Adresse«, sagte Arthur.
    »Ja. Du suchst sie nicht. Sie sucht dich. Und ich wollte nicht sagen, daß du gerade hier bist. Oder war das falsch?«
    »Hat sie nicht nach meiner Telefonnummer gefragt?«
    »Nein, aber die kann sie jetzt natürlich herausbekommen.«
    »Das Telefon läuft nicht auf meinen Namen.«
    »Dann bekommst du vielleicht einen Brief.«
    Oder Besuch, dachte Arthur. Aber er konnte sich das nicht vorstellen.
    »Was machst du jetzt?«
    Bevor er antworten konnte, klingelte das Telefon erneut.
    »Ah, Zenobia. Ja, den hab ich gesehen, den seh ich noch immer. Ein bißchen blaß um die Nase. Ja, die Niederländer können nicht trinken … ich geb ihn dir mal.«
    »Arthur?« Sie wickelte ihn in ihre Stimme ein wie in eine Wolldecke. Manche Menschen haben einen ausgesucht, ohne etwas von einem zu wollen. Man hatte nichts dafür zu tun brauchen. Sie hüllten einen in ihre Wärme ein, und man wußte, daß man sich bis zum bitteren Ende auf sie verlassen konnte.
    »Wann siehst du dir meine Fotos an?«
    »Morgen, Zenobia, morgen komme ich. Heute nachmittag? Nein. Jeden anderen würde ich anlügen, aber heute nachmittag habe ich eine Verabredung.«
    »Obmanschtschik!«
    »Was heißt das?«
    »Betrüger. Mit welcher Frau bist du verabredet? Siehst du darum so blaß um die Nase aus?«
    »Mit sehr vielen Frauen.«
    »Angeber. Mit wem? Du weißt, was ich gesagt habe. Müssen wir dich an den Mast binden? Mit wem?«
    »Mit einer Löwin.«
    »Ich bin auch eine Löwin.«
    »Weiß ich, aber meine hat echte Krallen. Ich gehe in den Tierpark im Osten. Dort wimmelt es nur so vor Frauen. Ozelote, Schlangen, Lamas …«
    »Natürlich.«
    »… Elefanten, Eulen, Adler … aber dafür gibt es keine weiblichen Formen.«
    »Tigerin, Äffin, Wölfin … Willst du filmen?«
    »Nein, heute nicht. Ich will einfach keine Leute um mich.«
    »Besten Dank«, sagten Arno und Zenobia gleichzeitig, und alle drei mußten lachen, während er auflegte. Sie kannten ihren Freund schon länger. Von Zeit zu Zeit verlangte es ihn mehr nach der Gesellschaft von Tieren als nach der von Menschen.
    »Wie kommst du dahin?« fragte Arno. »Ich muß auch in die Richtung, ich fahre nach Wittenberg, Vortrag über Luther. Dort findet eine Konferenz statt. Darum brauchte ich mein Auto. Ich fahre sowieso über den Osten.«
    »Und was ist damit?« fragte Arthur und zeigte auf die fast leere Flasche.
    »Das verkraftet Luther schon. Fährst du mit?«
    »Nein, nein. Heute will ich mit dem Bus fahren. Über den Köpfen schweben. Es gibt nichts Schöneres als Berlin vom Doppeldecker aus. Was wirst du da über Luther erzählen, mit deinem Weinkopf?«
    »Licht und Dunkel, und was für ein unglaublicher Stilist er war. Ohne Luther kein Deutsch. Kein Goethe, kein Mann, kein Benn. Ach …« Mit einemmal blieb er stocksteif stehen, als würde er von einer plötzlichen Erleuchtung getroffen. »Darüber schrieb ich gerade, ha, ein Capriccio, völliger Unsinn, aber trotzdem: Luther in einem Raum mit Derrida und Baudrillard. Er würde sie glatt wegfegen mit ihrem Mummenschanz. Obwohl … gegen einen Talmudisten und einen Jesuiten …«
    »Ich muß los«, sagte Arthur, »die Tiere warten. Die haben von alldem keine Ahnung.«
    »Und sie sagen auch nichts.«
    »Nein.« Aber das war ein Irrtum.
    *
    Der Tag war so grau geworden, wie er sich angekündigt hatte, das Grau von Zinkwannen, wie man sie heutzutage kaum mehr sah, von Gehwegplatten, falschen Uniformen, je nachdem, ob die Wolkenmasse mehr oder weniger Licht durchließ. Er war die Nestorstraße, in der Arno wohnte, hinuntergegangen und wartete jetzt zwischen mehreren anderen frierenden Leuten auf den Bus. Keine Familienangehörigen, heute nicht. Als das Ding endlich kam, ging er sofort die halbe Wendeltreppe nach oben. Die erste Bank war noch frei, er

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