Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
hatte die ganze Stadt für sich allein. Auf dieser Höhe gehörte man nicht mehr dazu, man konnte auf all die Köpfe hinunterschauen, die so zielstrebig irgendwohin gingen, man konnte auch den Übergang von West nach Ost registrieren, die Lücke, die für die meisten schon jetzt unsichtbar geworden war und an der er immer kurz den Atem anzuhalten schien, als gehöre es sich im Niemandsland auch wirklich nicht, zu atmen.
    Danach nahm das Grau zu, er mußte umsteigen, es dauerte lang, aber er fühlte sich wohl, trotz des alkoholbedingten Rauschens in seinem Kopf, der schlaflosen Nacht, des Gesprächs und des erneut genossenen Alkohols. Die Stadt draußen kannte er, und trotzdem erstaunte ihr Anblick ihn immer wieder. Die Blocks mit den kleinen Wohnungen, die hohläugigen Fenster, die billige Farbe, hier hatten sie gewohnt, die freudigen Millionen, und hier wohnten sie immer noch, nachdem ihr eigenartiger Staat aufgelöst, demontiert worden war und seine Führer vor Gericht gestellt, gefangen oder geflüchtet waren. Hier hatten sich nicht nur auf einen Schlag sämtliche Spielregeln geändert, nein, das Spiel selbst gab es plötzlich nicht mehr, Menschen waren aus ihrem bisherigen Leben herausgehoben worden, jeder Aspekt dieses Lebens, Zeitungen, Gepflogenheiten, Organisationen, Namen hatte sich geändert, vierzig Jahre waren plötzlich wie ein Stück Papier zusammengeknüllt worden, und damit war auch die Erinnerung an diese Zeit angekratzt, verzerrt, angeschimmelt. War so etwas zu ertragen?
    Die meisten Leute hier hatten ganz einfach schlechte Karten gezogen und hatten sich, wie man das eben tut, recht und schlecht durchgeschlagen, gefangen und dennoch frei, manipuliert und doch wissend, Opfer und mitunter Mitspieler eines makabren Mißverständnisses, das wie eine echte Welt ausgesehen hatte, eine korrumpierte Utopie, die so lange gedauert hatte, bis das Pendel wieder zur anderen Seite ausgeschlagen war, wobei die Bewegung zurück genauso schmerzte wie die Bewegung hin und nichts mehr so sein konnte, wie es gewesen war, wozu dann auch noch der Hochmut der anderen, die mehr Glück gehabt hatten, ertragen werden mußte.
    Jeder, mit Ausnahme der Jüngsten, mußte hier eine Lücke in seinem Leben haben, sei es eine Geheimakte oder ein Schuß an der Mauer, oder einfach, wie bei den meisten, ein Foto in der Schublade in der nicht mehr existierenden Uniform der FDJ oder der Volksarmee, zusammen mit Frieda oder Armgard, die mittlerweile auch wieder zehn Jahre älter war. Wie ging man damit um? Er wunderte sich immer darüber, wie wenig seine Freunde im westlichen Teil von diesen Dingen wußten oder wissen wollten. Das Verarbeiten der eigenen, mittlerweile auch schon wieder so lange zurückliegenden Vergangenheit schien sie völlig erschöpft zu haben, mit dem hier hatten sie nichts zu schaffen, das war einfach zuviel.
    Karl-Marx-Allee, Frankfurter Allee, hinter den Fenstern der Wohnblocks, die bei diesem Wetter doppelt düster wirkten, sah er Menschen sich bewegen, Frauen in Blümchenkleidern, Männer mit der verlangsamten, ziellosen Motorik von Arbeitslosen. Friedrichsfelde, schon von weitem sah er die hohen Bäume des Tierparks. Er kaufte eine Eintrittskarte, die jetzt zehnmal so teuer war wie damals, und bog im sicheren Wissen, was ihn erwartete, in eine der langen Alleen ein. Auch damals waren hier Väter mit Kindern entlanggegangen, und er wußte noch, daß er sich ausgemalt hatte, was diese Männer waren: subversive Dichter, Offiziere an ihrem freien Tag, suspendierte Lehrer, Parteifunktionäre … Aber wie gewöhnlich war ihnen nichts anzusehen gewesen. Sie dagegen hatten seinen Kleidern ansehen können, daß er aus dem Westen kam, oder hatten, weiß der Himmel, gedacht, er sei einer jener Privilegierten, die frei reisen konnten, aber sie hatten ihn nicht beachtet, hatten wohl Besseres zu tun, sie hatten ihre Kinder hochgehoben, damit sie den Eisbär auf der anderen Seite des braungrünen Wassers sehen konnten, und während sie den Tieren zuschauten, schaute er den Kindern zu. Was ging in diesen Köpfen vor sich? Ein Kind, das endlos lange auf eine große Schlange blicken konnte, man sah, wie es auf all die Windungen des zusammengerollten Schlangenleibs im beleuchteten Terrarium starrte, daß es zwischen all den fleischigen, bedrohlichen Schlingen den Kopf suchte, plötzlich lächerlich klein mit den geschlossenen Augen, und dann in unbewußter Imitation dieselbe Bewegungslosigkeit zu erreichen versuchte und sich

Weitere Kostenlose Bücher