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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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weigerte, sich von seinem ungeduldigen Vater weiterziehen zu lassen, weil es unerträglich war, daß ein Lebewesen sich wie tote Materie verhalten konnte, und man warten mußte, bis diese erstarrte Maskerade aufgehoben wurde.
    Thomas hatte eine Vorliebe für Eulen gehabt, seit er einmal im Amsterdamer Zoo Artis gesehen hatte, wie die große Eule ihren Kopf mit den runden ockerfarbenen Gucklöchern um hundertachtzig Grad gedreht hatte, so daß das Ocker mit diesen gefährlichen schwarzen Pupillen den ebenso reglos starrenden Blick des Kindes nicht länger festhielt. Was wußte man eigentlich von einem Kind, in was für eine Zukunft hatte Thomas seinen Blick gerichtet? Nicht daran denken. Immer wieder hatte er zu den Eulen gewollt (»Eule! Eule!«), aber er hatte nie etwas darüber gesagt, es hatte so ausgesehen, als kaue er auf all diesen Bildern herum, wolle sie für sich bewahren. Hier in Berlin waren die Eulen in eine entlegene Ecke verbannt worden, gegenüber einem düsteren Mahnmal, das an »das Lager Wuhlheide der faschistischen geheimen Staatspolizei (Gestapo)« erinnern sollte, wo »… Kriegsgefangene aus sechzehn Ländern für die Rüstungsindustrie ausgebeutet, mißhandelt und ermordet worden« waren.
    Dies hier waren turkmenische Eulen, große Köpfe, ganz feine beigefarbene Federn, Augen, die mitten durch einen hindurch schauten; sie ließen sich auf keine Weise anmerken, daß sie einen wahrnahmen, so daß man eigentlich nicht da war. Vielleicht hatte das Thomas so fasziniert. Er verspürte ein närrisches Verlangen, diese großen Tiere fliegen zu sehen, er stellte sich vor, was für ein Geräusch das machen würde, ein schweres, unheilvolles Rauschen. Jetzt war es bereits Abend in Turkmenistan, ein Wald, ein Berghang, das Geräusch dieser Flügelschläge, die den schweren Körper im Halbdunkel durch die Luft trugen, der hohe Schrei des Opfers.
    Tiere schienen soviel mehr zu wissen als Menschen, weigerten sich aber, etwas davon preiszugeben. Der Panther wich deinem Blick aus, der Löwe sah etwas dicht neben dir, die Schlange schaute nicht her, das Kamel sah über dich hinweg, der Elefant wollte lediglich die verbotene Erdnuß am Ende seines Rüssels sehen; alle leugneten sie deine Existenz, vielleicht aus Rache, wahrscheinlicher aber aus einem so intensiven Mitleid heraus, daß kein Blickkontakt zu ertragen wäre. Und gleichzeitig war das der Reiz: Alle diese Leben, die sich hinter Stacheln, Panzern, Hörnern, Schuppen, Schilden verschanzt, mit Fellen, Flossen, Krallen kostümiert hatten, der schreiende Tukan und das verborgene sandfarbene Insekt, sie alle hatten mehr mit dir zu tun als alles andere, das es auf der Welt gab, und sei es nur deswegen, weil sie, ob sie nun kürzer lebten oder aber viel länger, denselben Gesetzen unterworfen waren.
    Wie zur Bestätigung begannen die Hyänen irgendwo in der Ferne hoch und durchdringend zu heulen, von Zeit zu Zeit unterbrochen von heiserem, verächtlichem Husten, dann wieder diese hohen Heultöne, die an eine Sirene erinnerten, allerdings von einer Art, die selbst bestimmte, wann geheult werden mußte. Diesmal ließ er sich nicht rufen. Am Himmel waren bereits die ersten Pinselstriche der Nacht zu erkennen, es wurde Zeit, daß er nach Hause ging. Er hatte die Menschen und ihre Stimmen, so lieb sie ihm manchmal auch waren, abgeschüttelt, und wenn er die U-Bahn nahm, konnte er sich in der Nähe seiner Wohnung noch schnell etwas zum Essen kaufen.
    »Lust auf Einsamkeit« nannte Victor diese Stimmung. »Paßt zu alleinstehendem Herrn in der Großstadt. Allein mit seinen zehn Fingern, seinen Ohren, seinen Augen, leise summend zwischen seinen vier Wänden, umringt von den unsichtbaren Millionen, allein in der Metropole, Gipfel des Genusses.«
    Es kam anders. Als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufkam, saß Elik Oranje da, eine weibliche Form im Dunkeln. Er drehte den Schlüssel im Schloß herum, und sie stand auf. Keiner von beiden sagte etwas. Er knipste das Licht an und ließ ihr den Vortritt. Sie trug einen dunkelblauen Gabardinemantel, er registrierte es, ohne etwas dabei zu denken. Sie ging sofort zu dem Fenster wie jemand, der das Zimmer kannte, schaute kurz auf den Baum, setzte sich dann auf einen viereckigen Hocker ohne Lehne, auf dem er saß, wenn er telefonierte. Sie behielt ihren Mantel an, er hängte seinen in den Schrank und setzte Wasser für Kaffee auf. Ich kenne diese Frau nicht, und sie sitzt in meinem Zimmer. Sie behält ihren Mantel an, und

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