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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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ihr Gesicht bleibt verschlossen. Und seit gestern, die Drehtür, der weiße Fleck hinter der Scheibe, der plötzliche Abschied, was?
    Sie hat sich geweigert, über ihn nachzudenken. Er hatte zuviel gesagt, sie hat ihm keinen Zutritt gewährt. Ich schlage ihn mir aus dem Kopf. Oder vielleicht war es nicht einmal das, was er gesagt hatte, sondern dieser Bach, das Feld, die Bilder, die er wachgerufen hatte, alles, was so unwiderruflich weg war. Er konnte es noch wachrufen, danach war es verschwunden. Verschwundene Geschichte, die jemand wiederfinden mußte. Damit hatte sie sich auf den Heimweg gemacht, die lange Busfahrt, die schlafende Stadt hinter den Fensterscheiben. Ein betrunkener Mann war über sie hergefallen, sie hatte ihm hart ins Gesicht geschlagen, danach hatte er sie nicht mehr belästigt, sondern sich leise schimpfend in eine Ecke gesetzt. Im Bus waren keine weiteren Fahrgäste gewesen. Sie wußte, daß der Fahrer es in seinem Spiegel gesehen hatte, doch er hatte sich nicht gerührt.
    Ich sehe also nicht, was ich sehe, hatte sie gedacht, während sie durch einen Stadtteil nach dem anderen fuhr. Wie konnte man dann über eine Entfernung von tausend Jahren sehen?
    Suchen, hatte sie zu ihm gesagt, aber was bedeutete das?
    Das einzige, was von ihrer Königin übrig war, waren Dokumente und Archivalien, doch von dem, was sie gedacht und gefühlt hatte, war nichts geblieben. Es gab die spärlichen und apokryphen Zeugnisse von Zeitgenossen, doch die betrafen Ereignisse, nicht die Gefühle dahinter. Als sie nach Hause gekommen war (Haus! dieses Loch!), hatte sie das Licht nicht angeknipst, der schimmlige, feuchte Geruch des Treppenhauses war mit ihr zusammen hereingekommen, sie hatte sich ausgezogen, hatte aus ihrem Bett eine Art Kaninchenhöhle gemacht, sich gut eingemummelt wie ein Kind, und die Gedanken waren unaufhörlich weitergegangen. Suchen, doch die Dokumente widersprachen einander. Und trotzdem war dies die einzige Frau im spanischen Mittelalter gewesen, die wirklich Macht innegehabt hatte. Siebzehn Jahre hatte sie regiert, allein. Siebenundzwanzig war sie gewesen, Witwe, Mutter von zwei Kindern, Königin von Kastilien und León, als sie den König von Aragón heiratete. König, Königin, idiotische Wörter. Eine Frau liegt in ihrem Bett in Berlin und denkt an diese beiden Körper, die drei Königreiche waren, in einem nicht vorstellbaren anderen Bett. Nein, da gab es nichts herauszufinden außer den Fakten, die bereits vorlagen oder die noch entdeckt werden würden. Aus diesem Bett waren keine Kinder hervorgegangen. Bedeutete das, daß der Mann impotent gewesen war? Schließlich hatte sie bereits Kinder, und er hätte allen Grund gehabt, eines zu zeugen. Er schlug sie, sagten die Quellen. Tausend Jahre alter Tratsch oder die Wahrheit oder Schlimmeres. Die Ehe war eine Katastrophe geworden. Sie hatte zurückgeschlagen, allerdings mit Heeren. Doch alles, was man sich dazu überlegen konnte, wäre doch wieder nur Fiktion, Beziehungswahn.
    »Ich glaube, ich verstehe, warum du sie dir ausgesucht hast«, hatte ihr Doktorvater gesagt, »paßt gut in unsere Zeit, was?«
    Er war sehr von sich selbst angetan gewesen, mit diesem stumpfsinnigen Grinsen von Männern, die glauben, einen Punkt gemacht zu haben. Sie hatte nichts erwidert, dafür war es noch zu früh.
    Sie war spät eingeschlafen, ein paarmal wach geworden, ihr Wirt hatte an die Tür gehämmert und weinerlich etwas gerufen, und sie hatte ihn weggeschrien. Und jetzt saß sie einem anderen Mann gegenüber. Er goß zum letztenmal Wasser auf und brachte ihr einen Kaffee. Er würde sie nicht fragen, was sie hier wollte, er nicht. Er suchte etwas in seiner Innentasche und sagte dann, »hier, das ist für dich, von Arno Tieck«.
    Es war eine Ansichtskarte. Sie nickte, sah sich die Abbildung an. Was auf der Rückseite geschrieben stand, konnte sie später lesen. Dies war ihr Gebiet, hier kannte sie sich aus. In diesem stillen Raum mit den vielen Sarkophagen, deren Inschriften kaum zu entziffern waren, hatte sie gestanden und hätte gerne geglaubt, in einem dieser steinernen Särge liege ihre Königin begraben. Ein alter Priester, der dort herumging, riß sie aus ihrem Traum. Zu Recht, denn Träumen war nicht erlaubt. Der Mann war stocktaub gewesen und hatte geschrien, und sie hatte ihre Fragen zurückgeschrien, und ihre Stimmen hatten in den niedrigen romanischen Gewölben gehallt.
    »Napoleons Soldaten haben hier wie Bestien gewütet. Sie haben die Leichen,

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